Spannung erzeugen
Zutat 1: DAS GEHEIMNIS
Jede*r von uns hat ein Geheimnis. Das muss keine Leiche im Keller sein – auch kleine Geheimnisse machen eine Geschichte spannend. Stell dir zum Beispiel einen Jungen vor, der seinen Eltern verschweigt, dass er seinen Job verloren hat. Oder ein Mädchen, das sich in eine Schulkollegin verliebt hat, sich aber nicht traut, jemanden davon zu erzählen.
Es gibt zwei Sorten von Geheimnissen:
1) Wenn Figuren ein Geheimnis haben
In ihrem Buch “Optimisten leben länger” erzählt die Autorin Susin Nielsen von Petula, die vor jeder noch so kleinen Gefahr Angst zu haben scheint. So nimmt sie etwa jeden Tag einen riesigen Umweg auf sich, nur um nicht in die Nähe der Baustelle zu kommen. Könnte ja sein, dass ihr dort etwas auf den Kopf fällt. Auch den Lift meidet sie. So entstehen immer wieder Situationen, die richtig komisch wirken. Im Grunde aber sind sie traurig, denn Petula macht sich dadurch natürlich selbst zur Außenseiterin.
Erst nach und nach erfahren wir, welches Geheimnis Petula mit sich herumträgt. Sie fühlt sich nämlich schuldig am Tod ihrer Schwester. Und natürlich möchte Petula um jeden Preis verhindern, dass ihre trauernden Eltern nochmals eine Tochter verlieren. So wie sie verhindern möchte, dass sich ihre Eltern trennen. Deswegen klaubt sie Katzenhäufchen aus den Pantoffeln – denn seit ihre Schwester gestorben ist, kümmert sich ihre Mutter um kleine heimatlose Kätzchen, und das wiederum bringt Papa auf die Palme. Die Katzenhäufchen sind also auch so ein Geheimnis, das nicht auffliegen darf …
In der Therapiegruppe verliebt sich Petula schließlich in den lebenslustigen Jakob. Aber ist Jakob wirklich so lustig und cool wie angenommen? Oder schleppt auch er ein Geheimnis mit sich rum…
In wieder einem anderen Jugendroman von Susin Nielsen (Titel: “Adresse unbekannt”) geht es um Obdachlosigkeit. Felix und seine Mutter wohnen in einem alten VW-Bus. Und das dürfen natürlich nicht alle mitbekommen – schon gar nicht der beste Freund von Felix, weswegen Felix’ Leben ganz schön kompliziert wird … (Susin Nielsen ist eine meiner Lieblingsautorinnen, sie würzt ihre Geschichten mit Geheimnissen, viel Humor und einer großen Portion Herzenswärme. Und ihre Figuren sind absolut einzigartig!)
Geheimnisse funktionieren aber auch in Kurzgeschichten gut. Wenn du eine Geschichte schreibst, frage dich stets: Welches Geheimnis trägt die Hauptfigur mit sich? Was dürfen die anderen nicht über sie wissen? Sagen wir, deine Figur heißt Max. Vielleicht ist Max heimlich verliebt und schämt sich dafür? Vielleicht vertuscht Max aber auch, dass sein Vater schon einmal im Gefängnis war. Oder er verschweigt, dass seine Eltern pleite sind und die Familie deswegen nicht in den Urlaub fahren kann. Vielleicht verheimlicht Max auch einfach nur, dass er sich nicht vom Zehn-Meter-Brett zu springen traut. Ja, stellen wir uns einen Max vor, der Höhenangst hat. Weil sein bester Freund Tom das Zehn-Meter-Brett neuerdings aber total cool findet, traut sich Max nicht, die Wahrheit zu sahen. Lieber erfindet er immer wieder neue Ausreden, wieso er Tom nicht ins Schwimmbad begleiten kann. Am Schluss fliegt Max’ Geheimnis natürlich auf. Und wie reagiert Tom? Vielleicht findet er es gar nicht so schlimm, dass Max Höhenangst hat, ist aber enttäuscht, dass sein bester Freund ihn so oft angelogen hat …
Das allein wäre schon eine spannende Geschichte!
Es gibt unendlich viele Gründe, wieso Menschen etwas vor anderen verheimlichen. Meist zeigen wir unsere Ängste, unsere Trauer oder auch unsere Wut nicht, weil wir Sorge haben, nicht mehr geliebt oder nicht mehr respektiert zu werden. In Fantasygeschichten geht es in den ersten Kapiteln sehr oft auch darum, dass die Hauptfigur verstecken möchte, dass sie eine besondere Gabe hat – denn wer ist schon gerne anders als die anderen?
In Geschichten treffen wir sehr sehr oft auf Geheimnisse, die irgendwann auffliegen. Am Ende hat die Hauptperson aus dem Erlebten gelernt, sie hat sich weiterentwickelt. Vielleicht ist sie mutiger geworden. (Mut muss ja nicht heißen, vom Zehn-Meter-Brett zu springen. Mut kann auch heißen, mit dem besten Freund offen über die eigenen Ängste zu sprechen …)
2) Geheimnisse, den Hauptfiguren auf die Spur kommen
Diese Geheimnisse sind die klassischen Zutaten für Krimis, Horrorgeschichten und Familiendramen. Stell dir vor, Sarah verliebt sich in den hübschen Typen von nebenan. Leider weiß Sarah nicht, dass er ein Vampir ist!
Besonders spannend wird es dann, wenn Leser*innen mehr wissen als die Hauptfigur. (Alle wissen, dass der hübsche Nachbar ein Vampir ist, nur die ahnungslose Sarah nicht!)
Es gibt viele Geheimnisse, die von Hauptfiguren aufgedeckt werden können. Manchmal geht es darum, einen Mörder zu schnappen. Manchmal darum, ein in der Vergangenheit liegendes Geheimnis auszugraben. Und manchmal findet eine Hauptfigur heraus, dass sie zaubern kann, obwohl sie das selbst gar nicht wusste – aber die Leser*innen wissen es von Anfang an!
Geheimnisse nach und nach lüften
In Romanen findet man sehr oft eine ganze Reihe von Geheimnissen, die nach und nach ans Licht kommen. Geht es um Geheimnisse, welche die Hauptfigur enträtseln muss, fiebern Leser*innen Seite für Seite mit. Versteckt die Figur etwas vor den anderen, haben Leser*innen entweder selbst Angst davor, dass das wohlgehütete Geheimnis auffliegt – oder sie leiden mit und wünschen sich, dass die Hauptfigur sich endlich traut, reinen Tisch zu machen.
In beiden Fällen muss das Geheimnis in der Geschichte geschickt aufgebaut und nach und nach (nicht zu schnell!) aufgelöst werden. Das klingt einfach, ist aber verdammt schwer …
Beispiele aus der modernen Jugendliteratur
- Ich wähle wieder “Harry Potter”, weil zumindest die Filme fast allen bekannt sind. Die Autorin J.K.Rowling ist eine Meisterin im Erfinden von vielschichtigen Figuren, und das liegt auch an den Geheimnissen, die viele mit sich herumtragen. Da gibt es etwa Lehrer Lupin, der ein dunkles Geheimnis mit sich trägt. Von Snape erfahren wir ganz zum Schluss ein Geheimnis, das den unsympathischen Lehrer plötzlich in einem ganz neuen Licht dastehen lässt. Überhaupt weiß man bei Snape die ganze Zeit über nie so genau, auf welcher Seite er eigentlich steht. Ich fand Snape immer spannender als Voldemort. Bei Voldemort weiß man, dass er böse ist – aber bei Snape ist man sich mittendrin plötzlich nicht mehr so sicher, denn Dumbledore vertraut ihm. Und Harrys Eltern? Die waren auch nicht immer nur nett, wie wir nach und nach erfahren. Ganz abgesehen von den kleinen und großen persönlichen Geheimnissen, gibt es natürlich eine Menge Geheimnisse, denen Harry, Hermine und Ron auf die Spur kommen müssen.
- Eine Neuerscheinung aus dem Jahr 2022, die ich extrem cool fand, ist der Jugendroman “Im Dschungel um acht, bis einer lacht” von Katie Henry. Darin führt eine ziemlich schüchterne Schülerin ein geheimes Doppelleben als StandUp Comedian. Und daraus ergeben sich natürlich allerlei Probleme …
- Kennst du vielleicht den Roman “Nothing left for us” von Alice Oseman? Darin geht es um die intimen Geheimnisse der Hauptfiguren. So fliegt etwa das Pseudonym eines Jungen auf, der eine erfolgreiche Podcast-Reihe produziert – mit ungeahnten Folgen … Aber auch die “kleinen”, alltägliche Geheimnisse machen dem Jungen zu schaffen. Es geht nicht nur um die Radioshow, sondern auch um die eigene sexuelle Orientierung und die Frage, was man aus seinem Leben machen will. Was, wenn die Eltern andere Wünsche haben als man selbst?
TIPP: Wenn du das nächste Mal eine Geschichte liest, achte die großen und auch die kleinen Geheimnisse der Figuren! Sieh dir ganz genau an, wie sie in die Geschichte eingeführt werden, wann es so richtig spannend wird und wie die Geheimnisse gelüftet werden!