Figuren kennenlernen – Schritt 3
Schritt 3: Lerne das soziale Umfeld deiner Figur kennen!
Wie ich dir in den letzten beiden Beiträgen gezeigt habe, kann man auch über eine fiktive Person ziemlich viel herausfinden. Wir wissen nun, wie deine Figur aussieht, wie sie sich bewegt, wie sie spricht und wo bzw. wie sie wohnt. Nun geht es um die Familie und den Freundeskreis und auch die Schul‑, Studien- oder Arbeitskolleg*innen.
Mach dir Gedanken über die Eltern deiner Figur
Egal, ob deine Figur erwachsen ist oder noch ein Kind, ob die Eltern gestorben, weit weg oder im selben Haushalt leben: Eltern sind wichtig. Eltern prägen uns. Selbst wenn wir unsere Eltern nicht kennen, prägt das unseren Charakter. Und es gibt ja auch Stiefeltern, Pflegeltern, Großeltern …
Frage dich:
Wurde deine Figur als Kind verhätschelt und mit Liebe überschüttet? (Selbst wenn deine Figur noch ein kleines Kind ist, kannst du auf ihr bisheriges Leben zurückblicken.)
Wurde deine Figur (manchmal oder oft) vernachlässigt?
Oder gar körperlich oder seelisch misshandelt?
Auch wenn deine Figur keine Eltern hat, solltest du wissen, warum.
Harry Potters Eltern sind gestorben – und wir erfahren im Lauf der sieben Bände ziemlich viel über sie.
In einigen Geschichten erfahren wir von Kindern, die von ihren Müttern weggegeben wurden. Manchmal erfährt man, wie es dazu kam, manchmal aich nicht. (Ich selbst finde es immer spannend, wenn ich die Hintergründe erfahre.)
Frage dich, wie die Eltern (Stiefeltern, Großeltern) deiner Figur ticken.
– Welche Berufe haben sie? Welche Hobbys?
– Wie benehmen sich die Eltern üblicherweise? Wie ist ihr Charakter? (Wenn man das weiß, wird es umso spannender, wenn sie sich plötzlich anders verhalten.)
– Sind Mutter und Vater noch zusammen? Wenn ja: Ist ihre Beziehung liebevoll? Harmonisch? Streiten sie oft miteinander? Worüber streiten sie? Haben sich die Eltern noch viel zu sagen? Sitzen sie abends gern zusammen, um miteinander zu plaudern? Oder reden sie kaum noch miteinander? Beschimpfen sie sich gar? Und wie kam es dazu?
Wenn Eltern getrennt leben, stellt sich die Frage, ob das Kind, über das du schreibst, noch beide Eltern sehen darf. Wenn ja, wie oft? Und wie verlaufen diese Besuche? Fühlt sich das Kind mit der Besuchsreglung oder auch dem Pendeln zwischen den beiden Elternteilen wohl?
Sind die Eltern zuverlässig? Halten sie ihre Versprechen ein?
Schenken sie ihrem Kind viel Aufmerksamkeit? Oder starren sie immer nur ins Handy?
Wie fühlt sich das Kind neben den Eltern? Fühlt es sich beachtet? Geliebt? Oder einsam? Oder gar unerwünscht?
Ist vielleicht ein Elternteil überängstlich und würde am liebsten jeden Schritt des Kindes überwachen – aus lauter Sorge, dass ihm etwas zustoßen könnte?
Oder sind die Eltern sehr gelassen und vertrauen darauf, dass schon nichts Schlimmes passieren wird?
Manche andere Eltern sind permanent gestresst. Sie sagen stets: „Nicht jetzt, ich hab jetzt keine Zeit für dich!“
Wieder andere Eltern beschimpfen ihre Kinder vielleicht und sagen Sätze wie: „Wie kann man nur so dumm sein?“ oder: „Wenn es dich nicht gäbe, wäre mein Leben schöner“.
Wieder andere Eltern schlagen ihre Kinder …
Bedenke aber: Eltern schaden ihrem Kind im Normalfall nicht absichtlich. Die meisten Eltern lieben ihre Kinder, auch wenn es nach außen hin manchmal nicht so wirkt.
Manche Eltern sind überfordert, wenn ihr Kind frech wird. Sie glauben, eine „gesunde Watsche“ sei das beste Erziehungsmittel. Manche Eltern schlagen ihre Kinder und bereuen es im Nachhinein. Sie entschuldigen sind oft, trotzdem „passiert“ es ihnen wieder.
Manche Eltern sind depressiv, manche trinken zu viel, mache haben Stress in der Arbeit und lassen ihre Wut an den Kindern aus …
Es gibt natürlich keine Entschuldigung für Eltern, die ihre Kinder quälen – aber als Autor*in solltest du dich immer fragen: Wieso tut jemand etwas?
Natürlich gibt es auch Eltern, die fast perfekt sind. (Ganz perfekt gibt es nicht. Alle Eltern nerven irgendwann. Und das kann in einer Geschichte ganz schön lustig werden! Ich liebe Geschichten, in denen Eltern alles tun, damit es ihren Kindern gut geht – und dabei von einem Fettnäpfchen ins andere treten.)
Für den Fall, dass deine Figur nicht mehr bei den Eltern lebt: Stell dir dieselben Fragen. Als Autor*in solltest du wissen, wie deine Figur aufgewachsen ist. Gab es keine Eltern, dann gab es Erziehungsberechtigte (Pflegeeltern, Großeltern, Betreuer*innen im Waisenhaus – oder, wie bei Harry Potter, eine Tante und einen Onkel).
Selbst wenn die Eltern in meiner Geschichte mit keinem Wort erwähnt werden, überlege ich mir, wie meine Figur aufgewachsen ist. Ob sie glücklich war, ob sie sich geborgen gefühlt hat in der Familie. Ob wir uns verhätschelt und geliebt fühlen oder abgelehnt und unerwünscht, prägt nämlich unseren Charakter. Erwachsene, die als Kinder geliebt wurden, sind meist selbstbewusster als jene, die immer nur gehört haben, das es besser wäre, sie wären nie geboren worden …
Denk an Harry Potter. Wie traurig er sich fühlt und wie allein … Erst in Hogwarts wird er langsam zu dem selbstbewussten Jungen, den man am Ende kennenlernt. Die Sehnsucht nach den Eltern zieht sich aber durch alle Bände.
Auch Geschwister sind natürlich wichtig – alle Familienmitglieder, die in einem Haushalt zusammenleben (oder zusammengelebt haben).
Überlege: Wer ist / war die wichtigste Person für deine Figur?
Auch das solltest du unbedingt wissen. Fast alle von uns haben oder hatten eine ältere Person in ihrem Umfeld, die uns besonders fördert oder uns besonders in dem bestärkt, was wir tun. Oder die uns ein besonders Vorbild ist.
Nimm Harry Potter. Was wäre aus ihm ohne Dumbledore geworden?
(Überhaupt finde ich, dass Rowling in ihren Harry Potter-Büchern wirklich tolle Figuren erfunden hat – und ich wette, dass sich die Autorin selbst über jede Nebenfiguren sehr viel Gedanken gemacht hat.)
Und dann gibt es natürlich den besten Freund oder die beste Freundin …
Ist deine Figur beliebt – oder wird sie gemobbt?
Ist deine Figur in der Schule / in der Arbeit / im Sportklub (oder wo auch immer sie sich oft bewegt) beliebt – oder nicht?
Hatte sie viele Freund*innen?
Wird sie gemobbt?
Hat sie eine*n Fantasiefreund*in, weil es keine echten gibt?
Manche Erwachsene / Kinder wirken auf andere „seltsam“ — weil sie zu still sind, gern für sich bleiben, mit sich selbst oder einem Fantasiefreund sprechen …
Manche Erwachsene / Kinder sind total beliebt, ohne dass sie selbst es ahnen. (Ich kenne Menschen, die total unsicher sind, weil sie immer glauben, dass niemand sie mag, obwohl sie den meisten sympathisch sind. Wieder andere sind gar nicht so beliebt, wie sie selbst glauben …)
Falls deine Figur schon älter ist …
… frag dich, ob sie früher auch immer schon gemobbt wurde, oder ob das erst jetzt so ist.
Vielleicht ist es auch umgekehrt, und deine Figur wurde einmal arg gemobbt, aber heute ist sie sehr beliebt.
Kennst du die Bücher von Jenny Jägerfeld? “Mein geniales Leben” und der 2. Band “Mein genialer Tod” erzählt von einem Jungen, der mal gemobbt wurde und dann mega beliebt wird.
Ein Schulwechsel / ein Umzug / ein neuer Freundeskreis / eine neue Arbeitsstele … das alles wirkt sich manchmal sehr auf ein Leben aus. Denn Menschen, die uns noch nicht kennen, nehmen uns oft ganz anders wahr und das kann eine Chance sein, sich neu zu erfinden. (Manchmal aber ist es auch umgekehrt und wir kommen von einer super netten Klasse in eine Klasse mit Fieslingen …)
Vielleicht hast du schon ein paar Ideen?
Mein Tipp:
Setz dich hin, schnapp dir in Blatt Papier und halte alles fest, was dir ganz spontan zu den Menschen im Umfeld deiner Figur einfällt. Egal, ob die Erlebnisse in der Jetztzeit oder in der Vergangenheit liegen, je mehr du über das soziale Umfeld deiner Figur herausfindest, desto besser lernst du deine Figur kennen (du weißt dann, wieso sie vielleicht oft traurig ist; oder wieso sie schnell neue Freund*innen findet; oder wieso sie ägnstlich durchs Leben geht) …
❗ Stress dich nicht – Du musst nicht alles sofort wissen.
Ich selbst lege für jede meiner Figuren ein eigenes Blatt an. Auf manchen Blättern steht nur sehr wenig (von manchen weiß ich zu Beginn nicht mal den Namen) – zu anderen Figuren fällt mir sofort sehr viel ein. Diese Mappe steht immer neben meinem Schreibtisch. (Man kann aber auch mit Excel-Listen arbeiten).
Wenn du einmal damit begonnen hast, dir Gedanken über das soziale Umfeld und die Vergangenheit einer Figur zu machen, wird dir ganz automatisch immer mehr einfallen. Die besten Ideen kommen sehr oft dann, wenn man sie gar nicht erwartet – im Bus, bei einem Gespräch mit einer Freundin … oder auch mitten in der Nacht. Halte also am besten immer ein Notizbüchlein bereit (oder du installierst dir eine Notiz-App auf dein Handy).