Lie­be F.,

heu­te habe ich von Dir geträumt — bzw. vom gan­zen Chor. Ihr wart in Graz! Nein, nicht in der Syn­ago­ge, son­dern in einem rie­si­gen, ver­gol­de­ten Kon­zert­saal mit roten Samt­ses­seln. Mit­ten im Publi­kum saßen wir mit dicken, roten Ord­nern, um uns vor­zu­be­rei­ten. Kei­ne Ahnung, war­um unse­re Map­pen rot waren, sie pass­ten gut zu dem Samt. Du hast mich erbost ange­se­hen. Ob das Gerücht stim­me, dass ich mit­sin­gen wol­le. So eine Schnaps­idee, ich hät­te seit Jah­ren kein Kon­zert mehr gesun­gen! Du öff­ne­test dei­ne Map­pe, tat­säch­lich war mir gleich das ers­te Lied unbe­kannt. Lächer­li­che 4 neue Lie­der, wink­te R. ab, als du mich zu ihm schlepp­test. Beweg die Lip­pen, das fällt nie­man­dem auf!
Ich frag­te mich, ob mei­ne Tan­ten kom­men wür­den, wenn es bloß vier neue Lie­der gab. War­um ich mich dann tat­säch­lich gegen das Sin­gen ent­schied? Ich hät­te kei­nen ein­zi­gen Text mehr aus­wen­dig gekonnt.
Ihr kamt durch den Sei­ten­ein­gang (roter Samt­vor­hang), gesun­gen habt ihr nicht. Statt­des­sen kam Emma Wat­son auf der Büh­ne, hin­ter einem Steh­pult summ­te sie Nig­unim. Anschlie­ßend nahm sie neben mir Platz. Was sie in Graz macht? Sie lebt dort, aber ja! Sie hat ihren alten Job als Lehr­kraft wie­der auf­ge­nom­men, so viel hät­te sie mit den Har­ry-Pot­ter-Fil­men nun auch wie­der nicht ver­dient, sie sei ja nur die Neben­rol­le gewe­sen.
Ich folg­te ihr nach. Kata­kom­ben unter dem Kon­zert­saal. Die Damen zogen sich gera­de um, die Män­ner saßen bei Rot­wein und Hendl­ha­xen an lan­gen Heu­ri­gen­ti­schen. Emma zog mich zu R. Unser Chor­lei­ter ist mit der Wat­son ver­hei­ra­tet! War­um die Wat­son den Schä­fer­hund mei­nes Ex an der Lei­ne hat­te, weiß ich aller­dings nicht. Der Hund müss­te mitt­ler­wei­le tot sein, Züch­tun­gen wer­den sel­ten alt. Woher dann auch noch Sven aus dem Nor­den kam, der sich als Bru­der der Wat­son aus­gab, weiß ich noch weni­ger. Die meis­ten Men­schen kämen ja aus Schwe­den, sag­te die Wat­son und lach­te schal­lend. Der Hund mei­nes Ex gehör­te Sven. Er (der Hund) tat mir leid, ich ver­traue aal­glat­ten, blon­den Män­nern mit Föhn­wel­le nicht. P. und G. setz­ten sich zu uns an den Tisch und schnorr­ten Ziga­ret­ten, R. strich dem Hund übers Fell, die Wat­son sah mir in die Augen. Dass wir uns von nun an öfter in Graz tref­fen könn­ten, sag­te sie. Ger­ne, sag­te ich, aber es gäbe kei­ne rich­ti­gen Kaf­fee­häu­ser in Graz.

Ich wache von mei­nem eige­nen Lachen auf. Es ist 10 vor 5. Gut, den­ke ich, heu­te Nacht wur­den ohne­hin die Uhren gestellt. Ges­tern war ich unpro­duk­tiv, wie­so nicht heu­te mit dem vor­letz­ten Tage­buch­ein­trag begin­nen?
Du willst dei­nen Traum nie­der­schrei­ben, fragst Du? Aber ja, lie­be F. Was glaubst du denn, woher wir den gan­zen Schwach­sinn neh­men, den wir schrei­ben. Ein Schrift­stel­ler­le­ben ist ja per se ein recht lang­wei­li­ges. Wir sit­zen hin­ter unse­ren Schreib­ti­schen und tun so, als hät­ten wir eine Ahnung vom Leben, dabei mei­den wir die ech­te Welt nur zu ger­ne. Da wir die­se aber brau­chen, setzt sich jedes Körn­chen Erleb­tes in unse­ren Gehirn­win­dun­gen fest. Die Träu­me sind nichts ande­res als ein Kalei­do­skop, das mit weni­gen, bun­ten Split­tern aus­kom­men muss. Mit unse­ren Roma­nen ver­hält es sich nicht anders.
Bei einer Tas­se Kaf­fee neh­me ich das Kin­der­spiel­zeug und lege mich auf die Couch. Set­ze mich auf den Stuhl dane­ben und paf­fe eine Pfei­fe.
- Aha, aha, wie inter­es­sant. Sehen Sie, da haben wir es! Der Wie­ner Jüdi­sche Chor hat also tat­säch­lich in Graz gesun­gen, wäh­rend Sie hier in Pécs waren?
- Ja, ant­wor­te­te ich mei­nem 2. Ich. V. hat mir ein sms geschrie­ben, ob ich mit ihr zum Kon­zert gehen wol­le, aber ich war ja hier.
- Wer ist V?, fragt das (Über?-)Ich.
Also erzäh­le ich von V., die ein­mal im Chor gesun­gen hat und eben­falls nach Graz gezo­gen ist.
- Da haben Sie Ihre Emma Wat­son!, ruft das (Über?-)Ich, hält sei­nen Kugel­schrei­ber in die Höhe und pafft begeis­tert ein paar Rauch­wol­ken in die Luft. Ich fin­de, dass die Wat­son und V. so gut wie nichts gemein haben und erin­ne­re dar­an, dass man hier drin­nen eigent­lich nicht rau­chen darf. Mein zwei­tes Ich, das ein­deu­tig nicht mein Über-Ich sein kann (sonst wür­de es auf den Bal­kon gehen), igno­riert mich.
- Sie wün­schen Sich also wie­der auf die Büh­ne?
- Aber nein, sage ich. Muss wohl dar­an lie­gen, das ich neu­lich per Face­book-Kom­men­tar von T. gefragt wur­de, wann ich denn wie­der zum Sin­gen käme.
- Aber Sie haben in der Pfarr­kir­che Jeru­sa­lem of Gold gesun­gen, sieht mich Ich 2 ob mei­ner Lüge (wie es mir unter­stellt) stra­fend an. Ich sehe und höre alles!
Ich win­de mich. K. habe mich gebe­ten, also hät­te ich gesun­gen, ja. In der Kir­che sei ja nie­mand gewe­sen außer K., ihren bei­den Freun­den und mir.
- Aber war­um aus­ge­rech­net ein jüdi­sches Lied in einer Zis­ter­zi­en­ser­kir­che, die noch dazu ein­mal eine Moschee gewe­sen ist? Haben Sie denn gar kei­nen Respekt vor den Reli­gio­nen?
Ich 2, aha, das katho­li­sche Über-Ich also, den­ke ich. Heu­te fei­ert es sei­ne Auf­er­ste­hung und pafft mir die Bude voll.
Mir sei eben kein ande­res Lied ein­ge­fal­len, recht­fer­ti­ge ich mich und sin­ge: Yerus­ha­lay­im shel zahav!
- Schluss jetzt, wet­tert mein katho­li­sches Über-Ich, Sie kön­nen ja gar nicht mehr sin­gen! Und den Text beherr­schen Sie auch nicht, ich habe Ihnen in der Kir­che zuge­hört. Ist ja jetzt mein Haus, nicht wahr? Die ers­te hal­be Stro­phe haben Sie noch zusam­men­ge­bracht und dann zwei­mal den Refrain sin­gen müs­sen, eine erbärm­li­che Vor­stel­lung war das!
- K. hat es gefal­len, mau­le ich. Aber, sag mal, Gott — denn das bist du ja wohl, wenn die inner­städ­ti­sche Pfarr­kir­che dein Haus ist. Was hat­te der schwar­ze Hund mei­nes Exfreun­des neben der Wat­son zu suchen?
Da Gott auf alles eine Ant­wort weiß, rollt er die Zeit vor mir auf. Und tat­säch­lich, da taucht er auf, der pel­zi­ge Gefähr­te. Außer­dem hast du ges­tern Abend am Bal­kon dum­me Ver­glei­che ange­stellt, grinst Gott. Des­we­gen der Schä­fer­hund, siehst du?
Ich ste­he von der Couch auf, wer­fe das paf­fen­de katho­li­sche Über-Ich aus der Woh­nung (die­ser elen­de Bes­ser­wis­ser!) und ver­sprü­he Rosen­duft. In Pécs wachen die Leu­te lang­sam auf. Viel­leicht aber gehen sie auch erst schla­fen (die jun­gen Män­ner mit den Puschi-Hun­den). Die Haus­frau­en sehe ich hier nie. Seit ges­tern rie­che ich sie aller­dings, das gan­ze Haus ist eine gro­ße, feuch­te Wol­ke aus Geselch­tem. Laut neu­er Zeit­rech­nung ist es jetzt 7 vor 7. Zu spät, um wie­der schla­fen zu gehen.