Aber­mals ein neu­er Tag in Pécs. Ges­tern Abend end­lich etwas zu Ende gebracht, nach einem hal­ben Jahr Läh­mung. Heu­te am Mor­gen wie­der Schre­ckens­nach­rich­ten. Die Welt dort drau­ßen lebt also noch. Sie weint. Sie schreit. Sie ist in Panik. Viel­leicht hat­te die­se alte bul­ga­ri­sche Wahr­sa­ge­rin doch recht. In mei­ner Hei­mat schickt man Unter­ho­sen und Socken an das Innen­mi­nis­te­ri­um, um Ido­me­ni wird ein Zaun gebaut. Dazwi­schen Guten-Mor­gen-Küs­se und Kaf­fee durch die Inter­net­lei­tung, als sei nichts gesche­hen, als wür­de die­ses Euro­pa nicht gera­de unter­ge­hen.

Zwi­schen Eil­mel­dun­gen über Bom­ben­ex­plo­sio­nen noch immer die übli­chen Kat­zen­fo­tos. Wir kau­fen Früh­lings­blu­men wäh­rend am Brüs­se­ler Flug­ha­fen abge­trenn­te Glied­ma­ßen weg­ge­räumt wer­den. Am liebs­ten wür­de ich in den Wald zie­hen. Die­sen Vor­schlag habe ich mei­ner Mut­ter bereits gemacht, als ich 9 war, sie hat mich aus­ge­lacht.

Drau­ßen heult die Poli­zei­si­re­ne. In Pécs klingt sie wie in New York, sagt Kel­ley, die mich am Wochen­en­de besucht. Wir sit­zen am Bal­kon, rau­chen und sehen den jun­gen Män­ner dabei zu, wie sie ihre Puschi-Hun­de zum Kacken auf die Wie­se füh­ren. Dass es hier vie­le jun­ge Män­ner mit viel zu klei­nen Hun­den gibt, sag­te ich. End­lich sehe ich auch den Dom und die Moschee von innen. Sit­ze in der Bank­rei­he, schlie­ße die Augen und höre dem Chor zu. Kata­lin über­setzt die Pre­digt des Bischofs, er appel­liert an die Gemein­de, die Her­zen gegen­über jenen Men­schen, die sich in Not befän­den, nicht zu ver­schlie­ßen. Der Chor singt das Sanc­tus, der Text wird in blau­en Buch­sta­ben auf die glä­ser­ne Tafel pro­ji­ziert. Wäh­rend ande­re Bom­ben legen, essen wir Sup­pe mit vio­let­ten Früh­lings­blu­men und blin­zeln in die Son­ne. Immer schon war das Leben sur­re­al. Immer schon gab es die­se Gleich­zei­tig­keit von Nor­ma­li­tät und Alp­traum. Für man­che wird der Alp­traum zur Nor­ma­li­tät. Mei­ne Jun­gen flie­hen vor den Bom­ben, jetzt rei­sen sie ihnen nach. Auf einem Bild weint M. vor einem Schlauch­boot. Abends erzählt er mir von der Demo und der Neu­jahrs­fei­er, als gäbe es das wei­nen­de Kind nicht. Ich fra­ge nicht nach.

Im Kel­ler der Moschee wird ein Video gezeigt. Kel­ley ist fas­zi­niert von den spe­cial effects der Spren­gun­gen. Aus dem Glo­cken­turm wird ein Mina­rett, aus dem Mina­rett wie­der ein Glo­cken­turm. Aus dem Kreuz ein Halb­mond, aus dem Halb­mond ein Kreuz. Im Moment steht das Kreuz im Mond. Ich fra­ge mich, wie lan­ge noch. Als wir vor der Moschee/ Stadt­kir­che ste­hen, begeg­nen wir jun­gen Men­schen, die mit ihren Kör­pern Buch­sta­ben for­men: J‑E-V. Die Stu­den­tIn­nen gehö­ren ver­schie­de­nen Min­der­hei­ten an und tre­ten gegen Dis­kri­mi­nie­rung auf. Unse­re Gesprächs­part­ne­rin spricht Deutsch, ihre Groß­el­tern waren Donau­schwa­ben. Sie hat­ten damals Glück, sagt sie, sie wur­den nicht nach Sibi­ri­en ins Arbeits­la­ger geschickt. Die Geschich­te ist eine per­ma­nen­te Wie­der­ho­lung. Immer gibt es irgend­wo eine uner­wünsch­te Min­der­heit, die der Mehr­heit ein Dorn im Auge ist. Die Angst schleicht als Gespenst durch die dun­keln Wäl­der der Dumm­heit. Noch legen sich jun­ge Men­schen auf die Stu­fen und stre­cken Arme und Bei­ne von sich, für eine bes­se­re, auf­ge­klär­te­re Welt, die gera­de wie­der dabei ist, ver­schluckt zu wer­den.

Wie­so schreibst du nicht über Pécs? Du warst doch im Dom. Du warst in der Moschee, die ehe­mals eine Jesui­ten­kir­che war und heu­te den Zis­ter­zi­en­sern unter­steht und hast ein hebräi­sches Lied für dei­ne Freun­din gesun­gen. War­um schreibst du nicht dar­über?

In Deutsch­land unter­stel­len ein paar Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker der Kanz­le­rin, durch Auf­klä­rungs­bro­schü­ren bewusst die wei­ße Ras­se aus­rot­ten zu wol­len. Wenn mich mei­ne afgha­ni­schen Jungs nach der christ­li­chen Reli­gi­on fra­gen, begin­ne ich nicht mit dem neu­en Tes­ta­ment son­dern erzäh­le von Sarah und Hagar.

Und Gott?

Immer habe ich mir drei rau­sche­bär­ti­ge Her­ren vor­ge­stellt. Alle sehen sie gleich aus, nur die Kopf­be­de­ckun­gen sind unter­schied­li­che. Vor ihnen liegt ein bun­ter Spiel­pan, rote, schwar­ze und gel­be Figu­ren dar­auf. Einer zieht eine Akti­ons­kar­te. Die Far­ben wech­seln ein­an­der ab, ein­mal ist das Spiel­feld mehr­heit­lich rot, dann wie­der gelb, dann schwarz. Wir sind nicht mehr als die Plas­tik­fi­gu­ren, die das Feld bevöl­kern. Unser Schick­sal kann von einer ein­zi­gen Akti­ons­kar­te abhän­gen.

Die Péc­se­rIn­nen gehen mit den geweih­ten Palm­kätz­chen nach Hau­se, in mei­ner Face­book-Time­line neh­men die Oster­ei­er zu. Ich küs­se mei­ne Freun­din zum Abschied und win­ke ihr nach. In einer Woche wer­de ich wie­der in den Zug stei­gen. Bis dahin soll­te ich noch an mei­nem Roman arbei­ten. Eine Woche ist nicht lang, den­ke ich. Der News­feed ist ande­rer Mei­nung, stünd­lich spuckt er eine Eil­mel­dung aus und quetscht sie zwi­schen Harm­lo­sig­kei­ten.

Die Göt­ter sit­zen oben, trin­ken Nek­tar und machen Mit­tags­pau­se. Das Spiel hat sich ver­selb­stän­digt. Sie dis­ku­tie­ren. Ob sie die Welt noch­mals flu­ten sol­len? Gott 2 zuckt mit den Schul­tern. Wozu? Hat das letz­te Mal auch nichts gebracht. Gott 1 wech­selt den Kanal. Grü­ne Männ­chen mit Hörn­chen drauf, zwi­schen ihnen furzt Lou­is de Funès. Die Göt­ter leh­nen sich in ihren Schau­kel­stüh­len zurück und stel­len fest, dass sie alt wer­den.