Bil­lig­con­tent Blues [erschie­nen in der Antho­lo­gie Tex­te 5]

Bil­lig­con­tent Blues [erschie­nen in der Antho­lo­gie Tex­te 5]

Ich schaue meinem Mann ins Gesicht. Seine Augen sind geschlossen, wir liegen im Bett, es ist kurz nach halb sieben.  „Immer dasselbe, langweilige Ritual“, sagt er, als er die Augen aufschlägt. „Aufstehen, Kaffeemaschine einschalten, Zähne putzen, Käsebrot essen, aufs Klo gehen, duschen, anziehen und in die Schuhe schlüpfen.“ „Ich schlüpfe morgens nie in die Schuhe“, sage ich. 
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Maes­to­so [erschie­nen in: etce­te­ra #96]

Köflach. Dass dort der Vater ihrer Großcousine lebte, denkt sie. Sie kannte nur den Namen des Orts, nicht den Mann, und immer dachte sie dabei an den eigenen Vater und dass es zu seinem Aufenthaltsort keinen Namen gab, kein Wissen. Jetzt ist auch Köflach kein Ort mehr. Die Schaufenster fast alle leer, nur in einem sieht sie schmutzige Perchten-Masken (Lager des Schreckens). Sie fragt sich, wo die Menschen hier einkaufen, die Schuhe, die Nachthemden, dass es irgendwo ein Einkaufszentrum geben muss, vielleicht aber wird Köflach auch DHL-fernversorgt.
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Lese­rei­se Dal­ma­ti­en [erschie­nen auf: literaturdialoge.at]

Lese­rei­se Dal­ma­ti­en [erschie­nen auf: literaturdialoge.at]

Eine Straße mit Buswartehäuschen, im „hässlichen Bezirk Strassgang“. Die Tafel mit den Abfahrten ist unvollständig, auf meine hastig gemurmelte Frage bekomme ich Nicken zur Antwort: Zagreb, da,  ja.  Die Bank ist kalt, die Finger, die den E-Reader halten, klamm, ich schiebe mir die Haube unter den Hintern. So sitze ich und denke an Gralla, den Parkplatz, auf dem wir uns immer trafen, den Kaffee, den wir zu siebent tranken, und daran, dass dieses Jahr alles anders sein wird. Denke an I., die mich voriges Jahr mit dem Auto abgeholt hat, diesmal allein, und daran, dass wir alle nicht wissen, was kommt. Älter werden heißt, dass Selbstverständlichkeiten zu bröckeln beginnen. ...
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Edi­to­ri­al [erschie­nen in &Radieschen – Zeit­schrift für Lite­ra­tur #69]

Wir haben alles. Wir jammern auf hohem Niveau. Wir tun uns leid, wenn das Manuskript nicht angenommen wird, wenn es keine Lobeshymnen regnet. 95% derjenigen, die unsere Literaturzeitschrift lesen, sind wahrscheinlich Autor*innen. 80% von ihnen geht es vielleicht wie mir – sie verfallen in Selbstmitleid, wenn es mal nicht so klappt. Vielleicht kennen 40% das Leben unter dem (von anderen festgeschriebenen) Existenzminimum. Regelmäßig Café-Latte-Trinken-Gehen, ein Yoga-Zwanzigerblock, genügend Karten für die Viennale, ein Theater-Abo, Besuche im Grazer Literaturhaus (das im Gegensatz zu dem in Wien Eintritt verlangt) sind da einfach nicht drin. Egal. Es geht auch so: Den Corona-Stillstand weiterleben. Den Kaffee vor dem Computer trinken ...

Niklas­dorf

Ein süßer Geruch in der Luft. Papierfabrik, rät sie – das riecht man, ohne dass man den Namen kennen muss. Ein bisschen wie Frantschach, nur weniger konzentriert. Der Weg hinunter zur Mur muss erst gefunden werden, das Kino am Weg wie ein Fetzen aus einer anderen Zeit. Eine Erinnerung an früher poppt auf, es ist nicht ihre.

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“Die alte Simon”

Sie kicherte. »Was für ein klingender Name.« Ihr Kopf machte ihn nervös. Und dann sprach sie den Satz aus, der ihn damals so geärgert hat. »Ihre Vormieter waren nette Menschen. Haben mir immer Mineralwasser mitgebracht, wenn sie zum Einkaufen gefahren sind.« »Ich hab kein Auto«, hat er nur knapp geantwortet. »Ach so.« Sie hob enttäuscht die Schultern. »Naja. Kann man nichts machen. Dann werd ich wohl weiterhin die Sodakapseln verwenden müssen.« Jetzt legt er sein Ohr an ihre Tür. Noch immer hört er kein Geräusch. Er drückt auf die Klingel, so, wie er es schon am Vortag getan hat. Und was, wenn sie öffnet? Soll er so tun, als würde er wieder eine Briefmarke brauchen? Oder soll er zugeben, dass er sich Sorgen um sie gemacht hat? Vielleicht würde sie sich sogar darüber freuen. Dass er sich Gedanken macht. Dass sie ihm nicht egal ist.
Seid deutsch, bleibt einig! [erschie­nen in: Mor­gen­schte­an U76–77/ Bei­la­ge]

Seid deutsch, bleibt einig! [erschie­nen in: Mor­gen­schte­an U76–77/ Bei­la­ge]

"Seid deutsch, bleibt einig!" – an diesem Spruch müssen Slawen:innen in Radkersburg noch immer täglich vorbeigehen. Anders als in Kärnten gab es in der Steiermark für Slowenisch:innen lange Zeit keine Kulturvereine und auch keinen slowenischsprachigen Unterricht, auch in den Kirchen gab es keine Messen in slowenischer Sprache. Ich habe mich mit der Kärntner Slowenien Rezka Kanzian getroffen, die – gemeinsam mit Susanne Weinlaner und dem Pavelhaus – der slowenischsprachigen Literatur im Grazer werkraumtheater als Erste eine Bühne bot, und mich auf eine Spurensuche begeben.

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VATER VON SIE­BEN [erschie­nen in der Antho­lo­gie “Sie­ben”]

Sieben Geschwister sind sie gewesen, sagte die Großmutter. Die Lore, der Otto, der Josef, den alle den Pepsch nannten, der Hermann, der Ludwig, die Meri und als Letzte sie selbst, die Fips, eigentlich Philippa. Davor gab es noch drei Kinder, aber die gehörten nicht dazu, die waren vor ihrer Zeit. Die drei haben ihren ersten Geburtstag nicht erlebt, das eine kam 1914 tot zur Welt, das zweite wurde keine Woche alt und das dritte (auch schon ein Josef, so steht es auf dem Grabstein) starb mit nur neun Monaten an der Grippe, zwei Wochen bevor der Urgroßvater aus dem Großen Krieg heimkehrte.
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Pup­pen­heim, rosa­rot [erschie­nen in Fluch’­t’raum #11]

Du lebst in einem Puppenzimmer. Du hast ein Bett, deckst dich mit zwei Decken zu. Am Abend lehnst du dich gegen die Rückenlehne und versteckst dich in einer fremden Welt zwischen Papierseiten. Wanderst durch Leben, die nicht deine Leben sind, lebst Gefühle, die nicht deine Gefühle sind. Zuerst kamen sie und zerrten an den Gardinen. Drängten gegen Türen und Fensterläden. (Siehst du, Oma, was bringen schon Fensterläden, wenn die Welt vor deinem Haus steht?) Durch alle Öffnungen krochen sie, faulig war ihr Atem, abgerissen standen sie vor mir, zeigten auf ihre Beulen und Schürfwunden, hielten mir ihre Zahnlücken entgegen.
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Tod einer guten See­le [erschie­nen in der Antho­lo­gie “Radies­chen von unten”]

Tod einer guten See­le [erschie­nen in der Antho­lo­gie “Radies­chen von unten”]

Alle sind sie gekommen. Fein herausgeputzt, Schuhe poliert, Blick nach unten. Die arme Berta, sagen sie. So eine gute Seele und so ein hässliches Ende. Und was jetzt wohl wird, aus der Trudi und dem Martin, jetzt, da die Berta nicht mehr für sie sorgen kann. Wo doch die Trudi nicht einmal mehr ihr eigenes Spiegelbild erkennt. Ich stehe im Novemberregen. Nicke nach links, nicke nach rechts. Denke: In ein Zimmer wird man sie schieben. Die Trudi in eines mit Bett und Schnabelhäferl und den Martin …

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Pro­jekt Homeage. Adal­bert Stif­ter

Mein Vater bewohnte eine mittelgroße Wohnung in einer großen Gemeindebauanlage am Ostrand der Stadt. Im Erdgeschoß des Gebäudes befanden sich außer einer kleinen Supermarktfiliale noch ein Blumengeschäft, ein Tabakladen, ein Kaffeehaus, eine Schnapsbar, eine Nachtbar sowie eine Polizeistation. Im achten Stockwerk wohnte neben der Familie meines Vaters ein Ehepaar, welches die achtzig seit einiger Zeit überschritten hatte. Der Mann, der aufgrund seiner schweren Krankheit im Bette lag, wartete tagein, tagaus auf den Tod, während seine Frau ob der Tristesse ihrer Umgebung oft in Einsamkeit versank, weswegen die Frau meines Vaters sie manchmal zu einer Tasse Kaffee einlud.

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PAPA­VER­WEG: Bericht einer Recher­che

PAPA­VER­WEG: Bericht einer Recher­che

Diese kleine, dörflich anmutende Gasse am Wiener Stadtrand mit »Manhattener Skyline«, nur ein paar U-Bahn Minuten vom Stephansdom entfernt. Gibt es die wirklich? Oder ist alles nur Fiktion? (Den Text habe ich für den Leykam-Blog verfasst)
Schla­fe, mein Prin­zen [erschie­nen in der Antho­lo­gie “Mör­de­ri­sche Alpen”]

Schla­fe, mein Prin­zen [erschie­nen in der Antho­lo­gie “Mör­de­ri­sche Alpen”]

Das Gesicht liegt im Schatten, deswegen kann Süßkind sein Gegenüber nicht sehen. Aber hören kann er den Mann, dazu ist so eine Vorrichtung ja gedacht, zum Hören, und hören, das tut Süßkind, von weichem Fleisch und süßem Atem, von blauen Puppenaugen unter nassen Wimpern und rot angelaufenen Backen. Von Schweiß, süßlich-sauer wie Himbeersaft, von strampelnden Beinchen, die Minuten zuvor noch auf dem Fahrrad gestrampelt sind und nun in die Luft treten. Schweiß bricht aus Süßkinds Körper, kein süßlich-saurer Himbeerschweiß, sondern herb-saurer Männerschweiß, er tränkt das Hemd und lässt die Lippen salzig schmecken, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von den Bösen. Süßkind fährt mit dem Zeigefinger unter den Kragen, Luft, er bekommt keine Luft, der Kehlkopf ...
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Die All­wis­sen­de Daten­müll­hal­de

Die All­wis­sen­de Daten­müll­hal­de

Ich weiß, was du tust und wie du tickst, gestand mir ein Informatik-Freak, der mich persönlich nie kennengelernt hat und außerhalb des Binärsystems nie kennenlernen wird. Ich weiß alles über dich, dein Leben ist eine prall gefüllte Keksdose und wird durch Glasfaserkabel gespült, um direkt im riesigen Bauch des NSA-Wals zu landen.
“Tor­ten­schlach­ten”

“Tor­ten­schlach­ten”

Mit Geschichten von Polly Adler, Ela Angerer, Bettina Baláka, Ruth Cerha, Friedrich Dönhoff, Petra Hartlieb, Monika Held, Peter Henisch, Wolfgang Hermann, Margarita Kinstner, Elisabeth Klar, Edith Kneifl, Konrad Paul Liessmann, Heidi List, Klaus Nüchtern, Klaus Oppitz, Kurt Palm, Verena Petrasch, Eva Rossmann, Tex Rubinowitz, David Schalko, Susanne Scholl, Dirk Stermann, Cornelia Travnicek, Anna Weidenholzer und einem Songtext von Gustav
Antho­lo­gie “Bezie­hung­Kri­sen­Herd”

Antho­lo­gie “Bezie­hung­Kri­sen­Herd”

„Ausweitung der Kampfzone“ – so lautete das Thema des 19. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerbs. Über 700 Schreibende meldeten sich – dramatisch, spannend, verzweifelt, ironisch, liebevoll, einfühlsam – mit einem kurzen Text zu Wort. „Kampfzone“, das ist für die einen Krieg, Neo-Imperialismus, Balkan, Afghanistan, für die anderen Geschlechterkampf, Identitätsfindung, Liebe oder Altern. Die 23 besten Storys hier in vorliegender Anthologie.
“Stadt­men­schen”

“Stadt­men­schen”

– Stadtmenschen – Vierzig Stadtmenschen erzählen über das Lebensgefühl Stadt, von Lieblingsplätzen und prägenden Erinnerungen, Sehnsüchten und Lebensentwürfen.

Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na – Rei­se­rou­te

Ich danke all den Familien, die mich Teil ihres Alltags werden ließen, all jenen, die mir aus ihrem Leben erzählt haben - in Banja Luka, Derventa, Glamoc, Bihac, Mostar, Medjugorje und Sarajevo. Außerdem danke ich den AktivistInnenen in Banja Luka, Sarajevo und Tuzla, die mir von den Protesten und den Plenen sowie der Basisarbeit, den Problemen aber auch den Fortschritten erzählt haben - und die alle meine Fragen geduldig beantwortet haben und mir weiterhin bei jeder Frage Antworten und wertvolle Links schicken.

Vrba/Glamoč — Hei­mat­dorf mei­ner Freun­din Z.

Z. hat mir während meiner Teilnahme am Art Guerilla Camp ihre Geschichte erzählt. Sie floh mit ihrer Familie 1992 nach Belgrad, kam dann nach Glamoč zurück und musste 1995 erneut fliehen. Die Familie erreichte schließlich Derventa. Heute lebt Z. in Banja Luka. Gemeinsam besuchten wir ihren Heimatort Vrba in Glamoč.

Bei den Mić­ko­vićs in der Her­ze­go­wi­na

Mit Josip verbindet mich seit dem Projekt "Franz Ferdinands Princip" eine Freundschaft, die wir über Facebook aufrecht erhalten. Im Jänner hat er mich in Graz besucht - nun kam ich zu ihm in sein Atelier in Međugorje.

Bel­ma (III)

In den Nächten unterhalte ich mich mit Belma. Weißt du, was das einzig Positive an diesem verdammten Krieg war?, fragt sie mich. Früher hatte ich vor so vielen kleinen Dingen Angst und habe mir ständig Sorgen gemacht. Im Krieg kommst du dann drauf, wie unwichtig die meisten Dinge sind.

Bel­ma (II)

Der erste Abend. Sitze in der Baščaršija und laufe durch das Viertel. Esse Cevapi, denn das muss man in Sarajevo. Meine Gastfamilie zieht KM (Konvertmark) dem Euro vor, also mache ich mich auf die Suche nach einem Bankomat. Viele Hunde vor den Mülltonnen. Ich erinnere mich an die Berichte und Dokumentationen. Dass die Haustiere…

Bel­ma (I)

Die Handlung meines neuen Romans ist es, die mich nach Sarajevo führt. Sarajevo – die einst belagerte Stadt. In meinem Kopf: Fotos von umgekippten Straßenbahnen, zerschossenen Häuser. Snajper. Frage mich selbst, wieso ich ausgerechnet diesen Handlungsstrang in meinen Roman schreiben muss. (Aber doch, ich weiß es, warum.)

Sucht [erschie­nen in der Antho­lo­gie “Exis­tenz und Reni­tenz”]

Milchig weiß lehnt sich der Novembernebel gegen die Fensterscheiben und konserviert Gedanken zwischen Stahlbetonwänden. Alles friert ein und steht still. Gery sitzt am Sofa, die Heizung im Rücken auf die höchste Stufe gedreht, und beugt sich über den niedrigen Sofatisch. Mit einer rosa Bipa Bonuscard teilt er das weiße Pulver in zwei Linien, daneben leuchtet der Bildschirm des Laptops.