NOV 2020

Papa­ver­weg. Die­se klei­ne, dörf­lich anmu­ten­de Gas­se am Wie­ner Stadt­rand mit »Man­hat­te­ner Sky­line«, nur ein paar U‑Bahn Minu­ten vom Ste­phans­dom ent­fernt. Gibt es die wirk­lich? Oder ist alles nur Fik­ti­on?

2015, Dezem­ber. Die Woh­nung mei­nes Vaters befin­det sich in einem der berüch­tigts­ten Wohn­blocks Wiens. Adres­se: Renn­bahn­weg 27. Plat­ten­bau an Plat­ten­bau, 59 Stie­gen, 2.400 Woh­nun­gen samt eige­ner Poli­zei­wa­che. Die U1 nach »Trans­da­nu­bi­en« war mein per­sön­li­cher Zug nach Hog­warts, damals, als mein Vater mich nicht mehr mit dem Auto abhol­te, als ich mit dem 44er run­ter zum Schot­ten­tor fuhr und dann wei­ter: U2, U4, U1. Beim Donau­zen­trum begann eine ande­re Welt. Mus­keln und Täto­wie­run­gen, männ­lich-coo­le Sprü­che, Bier­do­sen und wei­ße Turn­schu­he. Das alles kann­te ich nicht. Ich war Schü­le­rin im Cot­ta­ge­vier­tel, kann­te schmal­brüs­ti­ge Buben mit guten Manie­ren, wir Mäd­chen tru­gen Per­len­ohr­ste­cker und Pumps, und wenn wir das Spiel nicht mehr mit­spie­len woll­ten, wech­sel­ten wir zu Doc Mar­tens, hör­ten »Nir­wa­na« und »Die Ärz­te« und mach­ten einen auf Grunge. Der Renn­bahn­weg aber war eine ande­re Welt. »Dass du dich dort allein zur Stra­ßen­bahn traust«, sag­te B., wenn ich ihr von den Sonn­ta­gen erzähl­te, von mei­nen »Ich wur­de schon wie­der angequatscht«-Erlebnissen, von des Vaters nicht jugend­frei­en Video­kas­set­ten und den Schlä­ge­rei­en, die man mit stolz­ge­schwell­ter Brust wei­ter­t­ra­dier­te, von Mann zu Mann zu Sohn zu Besuchs­schwes­ter. Mei­ne Freun­din konn­te sich gar nicht satt­hö­ren, ich muss­te mei­ne Erzäh­lun­gen nicht mal aus­schmü­cken, schließ­lich war für sie selbst das Otta­krin­ger Vier­tel, in dem ich wohn­te, eine Bedro­hung: die Betrun­ke­nen, die aus den Beisln tor­kel­ten, die fremd­län­di­schen Akzen­te im Hof hin­ter unse­rem Haus, die Jog­ging­ho­sen und Schlap­fen, die man in ihrem Nuß­dorf nicht sah. (Spä­ter dann war es aus­ge­rech­net B., die eine Ver­ge­wal­ti­gung vor ihrem Fens­ter ver­hin­der­te, Nuß­dorf mit sei­nen Bäu­men und Büschen ist eben doch das bes­se­re Ver­steck.) In Kagran dreh­te ich stets die Laut­stär­ke mei­nes Walk­mans her­un­ter. Viel­leicht hat das damals begon­nen mit mei­nen Lausch­an­grif­fen. Das Pen­deln zwi­schen Cot­ta­ge­vier­tel, Otta­krin­ger Braue­rei und Renn­bahn­weg hat mich neu­gie­rig gemacht, auf die Men­schen, ihre Spra­che, ihre Ges­ten, ihre Welt. Ich stel­le die Rei­se­ta­sche ab. Atme den kal­ten Rauch der Vater­zi­ga­ret­ten ein, den­ke an mei­ne Teen­ager­ta­ge. Der Vater ist nicht da, besucht sei­ne Schwie­ger­fa­mi­lie, wie immer zu Weih­nach­ten. Ich zie­he den Vor­hang zur Sei­te, schaue hin­un­ter, acht Stock­wer­ke tief. Rings her­um der Blick in ande­re Woh­nun­gen, ande­re Leben. Unten bellt ein Hund, krei­schen Kin­der, quas­seln Frau­en, keift ein Mann. Bis zur Weih­nachts­fei­er, zu der ich ange­reist bin, ist noch Zeit. Wie der Zufall es will, fin­det sie in Otta­kring statt, kei­ne fünf Geh­mi­nu­ten von jener Woh­nung ent­fernt, von der ich damals jeden zwei­ten Sonn­tag auf­ge­bro­chen bin. Heu­te wer­de ich nur halb so lang brau­chen, statt fünf Ver­kehrs­mit­teln braucht es nur noch zwei, die fah­ren jetzt sogar nachts. Ich könn­te die Zeit vor dem Fern­se­her tot­schla­gen. Mein Vater hat­te immer schon vie­le Kanä­le, lock­te bereits in den Acht­zi­gern mit Kabel­fern­se­hen und Video­kas­set­ten (Boschwanza fällt mir ein). Ich ent­schei­de mich gegen die Träg­heit. Spa­zie­re um die Anla­ge her­um, über­que­re die gro­ße Stra­ße, bie­ge in eine schma­le Gas­se mit Ein­fa­mi­li­en­häu­sern und gepfleg­ten Vor­gär­ten, von »Man­hat­tan« direkt ins Dorf. Der Name auf dem Stra­ßen­schild: ein Pflan­zen­na­me, latei­nisch. Ich kra­me mein Han­dy aus der Tasche und foto­gra­fie­re. Es ist ein mil­der Dezem­ber­tag, die Son­ne patzt hel­le Fle­cken auf den Asphalt, Weih­nachts­män­ner aus Plas­tik klet­tern Haus­mau­ern hoch, zei­gen nack­te Popos. Ein Mann unter­bricht sei­ne Auto­wä­sche, tritt an den Gar­ten­zaun, mit dem Schlauch in der Hand. Will wis­sen, was ich hier mache. Als ich ihm sage, dass ich Schrift­stel­le­rin sei und mich für die Gegend als Schau­platz eines Romans inter­es­sie­re, fragt er, für wie blöd ich ihn hal­te und hebt dro­hend den Schlauch: »Ver­schwin­den S’, wenn’s net nass wer­den wol­len!«

2017. Das Haus, in dem ich woh­ne, steht nicht in Wien. Das Haus ist ein Haus irgend­wo in Öster­reich – ein Haus, des­sen Par­tei­en sich gegen­sei­tig belau­ern. Ein Mann steht auf dem Bal­kon, foto­gra­fiert Auto­kenn­zei­chen: Wehe dem, der wider­recht­lich auf unse­rem Grund parkt. Jeder klagt hier jeden, hängt dem ande­ren was an, den Krat­zer im Auto­lack, die defek­te Wasch­ma­schi­ne. Spä­ter dann, nach Oskars Geburt, wer­den wir flie­hen, mit Sack und (bzw. über die) Pack. Noch aber sit­ze ich an mei­nem Schreib­tisch. Drü­ben steht die alte Frau am Fens­ter, am Abend wird sie mei­nen Mann fra­gen, wie ich den Lachs zube­rei­te, sie weiß immer, was ich koche, wann ich koche, wann ich die Fens­ter put­ze, die Wäsche wasche, zu lan­ge tele­fo­nie­re. Was sie nicht weiß: dass ich ihr zuschaue beim Zuschau­en, dass es mei­nen Oskar ohne sie nicht gäbe.

2018. Mein Vater und sein Surf­brett tan­zen auf dem Meer, die Woh­nung am Renn­bahn­weg gehört mir, gan­ze 12 Tage lang. Ich rich­te mein Büro am Bal­kon ein, es ist heiß drau­ßen, die Luft in den Zim­mern wie eine unsicht­ba­re Rie­sen­qual­le. Unten bellt ein Hund, krei­schen Kin­der, quas­seln Frau­en, keift kein Mann. In einem Zei­tungs­ar­ti­kel heißt es, das Pro­blem­kind Renn­bahn­weg sei erwach­sen gewor­den, viel­leicht ist es das wirk­lich, viel­leicht bin auch ich es, wir haben in etwa das­sel­be Alter. (…)

gan­zen Blog­ar­ti­kel kann man hier lesen: https://www.leykamverlag.at/2020/09/30/papaverweg-6-annaeherung-an-eine-fiktive-gasse/