Die e‑card am Empfangstisch abgeben, die Sprechstundenhilfe wie ein schnaubendes Flusspferd, so etwas sollte man nicht in eine Empfangshalle setzen, schon gar nicht zu einem Lungenfacharzt, ein Schnaufen ist das, eine Aufforderung, kein Wunder, denkt Ria, dass man danach selbst zur Zigarette greift.
Der Warteraum einheitliches Weiß, die Wände, die Stühle, die Vorhänge, sogar die Bilder, alles ist hier weiß, so weiß wie Rias Lunge sein sollte, nicht schwarz, oder gar grün, grün schimmelig vom vielen Wasser, das sich in ihren Lungenflügeln befindet und von dem niemand so genau sagen kann, woher es eigentlich kommt.
Ria sieht auf die Uhr. Acht Patienten im Warteraum. Acht mal zehn sind achtzig. Achtzig Minuten weiße Angst.
Auf dem Tisch hocken bunte Illustrierte wie grün schillernde Fleischfliegen. Die Bunte, Die Post, Woman und wie sie sonst alle heißen, Bildungslückenfüller allesamt. Ria steht auf, greift nach einem der Hochglanzmagazine. Bunte Bilder von Frauen in Weiß starren ihr entgegen, Rüschen gepaart mit Vorhangstoffen, der glücklichste Tag des Lebens. Ria blättert weiter. Dünne Mädchen in hochhakigen Schuhen, sie haben allesamt kein Wasser in den Lungen, auch nicht in den Beinen, Wasser ist zum Trinken da, drei Liter, fünf Liter, sechs Liter, alles aufgeschwemmt, der ganze Hunger überflutet. Ria schlägt die Illustrierte wieder zu, steht auf, legt sie auf den weißen Tisch.
Und was, wenn sie doch etwas finden? Einen Schatten? Einen Tumor? Einen Eindringling, der sich an ihre Lungenflügel krallt und spuckt, speit und alles überflutet bis Ria gar nicht mehr wird atmen können, das Wasser blubbert von den vielen Luftbläschen des eingeatmeten Sauerstoffs, wie bei einem Tiefseetaucher, sie wird einatmen und einatmen, ihr Brustkorb wird sich spannen, das Wasser wird aus ihr herauslaufen, zuerst aus Mund und Nase, dann aus ihren Augen und Ohren, aus ihrer Vagina, es wird ihre Beine hinunter rinnen und zwischen ihren Zehen hervorquellen.
Ria hält die Augen geschlossen. Ein Mann kommt ins Zimmer, grüßt. Ria öffnet die Augen. Der Mann setzt sich auf den Stuhl gegenüber. Fünf Patienten. Fünf mal zehn sind fünfzig. Ria bläst Luft aus. Der Lautsprecher kracht.
erschienen in: Driesch, Zeitschrift für Literatur und Kultur, Ausgabe 7, 2012
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