Auf der Flucht vor mei­ner gro­ßen Lie­be, mei­nen Freun­din­nen und Freun­den bin ich Anfang März 2014 in Pécs gelan­det, so der Beginn von Chris­ti­an Fut­schers Pécs ‑Tage­buch.  Seit­dem das harp glis­san­do mich geweckt hat, stel­le ich mir vor, wie es wäre, Fut­scher auf einen Kaf­fee zu tref­fen und über die­sen, sei­nen ers­ten Satz zu reden.

Den gan­zen Rotz der letz­ten 6 Mona­te her­aus­schlei­men und wie­der ins Schrei­ben fin­den. Und das ande­re auf spä­ter ver­schie­ben. Flüch­ten, um wie­der­zu­keh­ren.

Als ich sag­te: Ich fah­re nach Ungarn, hat mich mein Jun­ge ängst­lich ange­se­hen. Vor einem hal­ben Jahr war Ungarn für ihn ein Fleck auf der Land­kar­te, Durch­zugs­be­giet. Er hat das Land nur unter sich rum­peln gespürt, nie gese­hen. Ich sit­ze in der Bahn und schaue für ihn aus dem Fens­ter. Schwemm­land, Baum­stümp­fe, geduck­te Häu­ser von denen die Fas­sa­de abblät­tert.

Seit einem hal­ben Jahr habe ich ein “Kind”. Nein, es sind sogar 2. Sei doch wenigs­tens ehr­lich und gib es zu. „Mama, ich ver­mis­se dich“ schreibt der eine, der ande­re erkun­digt sich nach mei­ner Rei­se, mei­nem Zim­mer — ob es mir gut geht. Sei­ne Nach­rich­ten kom­men als hel­ler Ton über den Face­book Mes­sen­ger. Ich schrei­be, ich sei müde. Wün­sche eine Gute Nacht und klap­pe das Buch von Anto­nio Fian auf. 3 Wochen will ich noch ein­mal mein altes Leben füh­ren. Mag nicht Teil­zeit-Mut­ter sein, nicht Gelieb­te. Nicht ein­mal Freun­din, Bekann­te, und ja, viel­leicht nicht ein­mal Autorin. Autorin­nen schrei­ben nicht, Autorin­nen küm­mern sich um Hono­rar­no­ten, Steu­ern und SVA Bei­trä­ge, geben Zug­ver­bin­dun­gen bekannt und strei­chen Lese­stel­len an.

Am Mor­gen ertrin­ken an den Gren­zen Kin­der. Oder erfrie­ren. Oder wer­den erschos­sen. Viel­leicht soll­te ich mei­nen Face­book­zu­gang sper­ren. Viel­leicht soll­te ich den Rou­ter abdre­hen. Viel­leicht ist W‑Lan in AiR-Wohn­unen gar nicht so gut.… Wie sol­len wir flie­hen, wir, die Über­sät­tig­ten?

Was machst du dir Gedan­ken über einen ein­zi­gen Satz von ges­tern, wenn heu­te Kin­der erschos­sen wer­den?, brüllt mich das Pos­ting eines Bekann­ten (vor dem ich nicht geflo­hen bin) an. Und doch ist der Satz (harp glis­san­do) mehr in mei­nem Kopf als die erschos­se­nen Kin­der, mehr als die ertrun­ke­nen oder nie­der­ge­tram­pel­ten, denn das Ster­ben ist zur Nor­ma­li­tät gewor­den und die Lie­be zu einer Unmög­lich­keit. War­um sonst sprecht ihr von den Kin­dern? Ster­ben mit den 20jährigen kei­ne Hoff­nun­gen? Und was ist mit den 40jährigen? Habt ihr etwa Angst, öffent­lich zuzu­ge­ben, euch mit euren 40 an das Leben zu kral­len? Euch ein­zu­ge­ste­hen, dass ihr gar nicht bereit wärt, zu tau­schen — euer Leben gegen das eines frem­den Vier­jäh­ri­gen?

Wir leben in Pup­pen­woh­nun­gen, Pup­pen­häu­sern, Pup­pen­städ­ten. Lackiert in bun­ten Far­ben. Die Kin­der wer­den in den Kel­lern ver­ge­wal­tigt, oben dre­hen sich die 

Wind­rä­der und erzeu­gen Öko­strom. Wir wol­len kei­nen Smog, wir wol­len kei­ne Toten, wir empö­ren uns auf unse­ren Face­book­sei­ten und sehen uns Sonn­tag­abend den Tat­ort an.

Ja, ich bin nach Ungarn gefah­ren. „Kannst dir den Zaun anschau­en“, hieß es. 

In mei­nem Zim­mer steht ein TV-Gerät. Wis­sen sie denn nicht, dass wir Reiz­süch­ti­ge sind, die ihre Türen nie ganz schlie­ßen, dass uns nicht ein­mal die lei­ses­ten Stöhn- und Streit­lau­te, die aus einem gekipp­ten Fens­tern drin­gen, ent­ge­hen, dass wir zu tip­pen auf­hö­ren, nur um alles ganz genau mit­zu­be­kom­men?

Heu­te musst du dich selbst dis­zi­pli­nie­ren. Alle Kanä­le kap­pen, den Rou­ter abdre­hen, das Smart­phone am bes­ten gar nicht erst auf­la­den. Bit­te ent­fernt die Steck­do­sen aus die­sem Raum! Neu­er­dings haben sie sogar die Roa­ming­ge­büh­ren gesenkt … 6 Cent kos­tet die Brü­cke nach Süd­ös­ter­reich. Ich beschlie­ße, sie nur in den Abend­stun­den zu öff­nen. Rede mich auf mei­nen Jun­gen aus, der schreibt immer gegen 22 Uhr. 

Wie damit umge­hen, fra­ge ich mich — ich, die ich immer nur für mich da war, die ich mich in der Ein­sam­keit und Melan­cho­lie gewiegt habe wie in einem Schau­kel­stuhl, die Vor­hän­ge vor die Fens­ter gezo­gen …

Pup­pen­haus. Du lebst in einem Pup­pen­zim­mer. Du hast ein Bett, deckst dich mit 2 Decken zu. Am Abend lehnst du dich gegen die Rücken­leh­ne und ver­steckst dich in einer frem­den Welt zwi­schen Papier­sei­ten. Wan­derst durch Leben, die nicht dei­ne Leben sind, lebst Gefüh­le, die nicht dei­ne Gefüh­le sind.

Zuerst kamen sie und zerr­ten an den Gar­di­nen. Dräng­ten gegen Türen und Fens­ter­lä­den. (Siehst du, Oma, was brin­gen schon Fens­ter­lä­den, wenn die Welt vor dei­nem Haus steht?) Durch alle Öff­nun­gen kro­chen sie, fau­lig war ihr Atem, abge­ris­sen stan­den sie vor mir, zeig­ten auf ihre Beu­len und Schürf­wun­den, hiel­ten mir ihre Zahn­lü­cken ent­ge­gen.

Pup­pen­haus. Pup­pen­zim­mer. Bun­te Kat­zen aus Ton und Holz auf dem Buch­re­gal. Um dich her­um ste­hen sie mit Feder und Tin­te und krat­zen dir ihr Leben unter die Haut. 

Der Kaf­fee geht über, die Herd­plat­te zischt. Wie geht es dir, Mama? 

Spä­ter das harp glis­san­do. Mei­ne Sehn­sucht ist dehn­ba­rer gewor­den, seit­dem ich hier bin.

Viel­leicht sind wir, die wir hier­her­kom­men, alle auf der Flucht. Viel­leicht sind wir des­we­gen so ungern in ange­stell­ten Ver­hält­nis­sen – nicht, weil uns die Arbeits­stun­den die Schreib­zeit steh­len wür­den, son­dern weil wir immer wie­der in eine Bahn stei­gen müs­sen. Weg von den Freun­den, den Kin­dern und sogar der gro­ßen Lie­be. Wir flüch­ten vor dem Glück und dem Unglück glei­cher­ma­ßen, wir flüch­ten vor der Ein­tö­nig­keit, wir fah­ren in eine Art Nie­mands­land, in der Hoff­nung, aus der Zeit her­aus­ge­holt zu wer­den, um uns wie­der auf etwas ein­las­sen zu kön­nen, das nichts mit uns (und doch nur mit uns) zu tun hat. Und sei es nur für drei­ein­halb Wochen .…

©MK, März 2016