Ich habe S., die Schuh­de­si­gne­rin, wie­der­ge­trof­fen. Im Café Kokosch­ka, an einem jener Nach­mit­ta­ge, die es uns erlaub­ten, unter einem der Son­nen­schir­me Platz zu neh­men. Dort erzähl­te sie mir von Vasa, des­sen Hin­ter­zim­mer sie ein paar Jah­re genutzt habe, von sei­ner besieg­ter Krank­heit und sei­nem unein­ge­schränk­ten Lebens­wil­len. Vor allem aber erzähl­te sie von den Schu­he, die er unauf­hör­lich samm­le und die sich aus­brei­ten wie das All. Dass sie eine Zeit­lang geglaubt habe, es wür­de rie­chen, drei Mona­te lang zu sor­tie­ren, alles in Schach­teln zu ban­nen und die Wän­de weiß zu bema­len, um Ord­nung zu schaf­fen – wenn schon nicht für immer, so doch zumin­dest für die nächs­ten Jah­re.
Heu­te, nur zwei Jah­re nach ihrem Ver­such, Platz zu schaf­fen, sehe es in Vasas Räum­lich­kei­ten schlim­mer wie denn je. Sneža­na seufzt und lächelt zugleich. Vasa ist und bleibt ein sam­meln­der Cha­ot, die gan­ze Arbeit sei umsonst gewe­sen.
Hast du Lust, Vasas Geschäft zu besu­chen, frag­te mich S. Das könn­te inter­es­sant für dich sein.

Eine Woche spä­ter, nach mei­ner Rück­kehr aus Salz­burg, neh­men wir das Lini­en­ta­xi nach Bel­grad. Auf der ande­ren Sei­te der Donau stei­gen wir in den Sech­zeh­ner und fah­ren zwei Sta­tio­nen, dann wech­seln wir in einen ande­ren Bus. Bevor wir den Weg zu Vasas Geschäft neh­men, erklärt mir Sneža­na noch schnell den Weg zum Omni­bus, der mich nach unse­rem Besuch zum Haus der Blu­men brin­gen soll.

Ein klei­nes Geschäft, dahin­ter ein Raum. Ich stel­le mir vor, wie eine etwas jün­ge­re Aus­ga­be von S. hier sitzt, ein­ge­klemmt zwi­schen all dem Leder. Vom Ver­kaufs­raum dringt Lachen her­über. Vasa bekommt oft Besuch, von den ver­schie­dens­ten Leu­ten, S. näht und jagt Gesprächs­fet­zen nach.
Manch­mal ist Vasa hin­ter­her zu mir gekom­men und hat mich gefragt, ob ich alles gehört habe, erzählt sie mir. Du kannst dir gar nicht vor­stel­len, was ich da alles gehört habe, es sind ja haupt­säch­lich Män­ner gekom­men. Alte und jun­ge, vie­le Künst­ler waren dar­un­ter. Und natür­lich hat kei­ner geahnt, dass hin­ten eine jun­ge Frau sitzt.

Ich foto­gra­fie­re. Ges­ten noch habe mir das sich unent­wegt aus­brei­ten­de Cha­os aus Schu­hen nicht vor­stel­len kön­nen, jetzt habe ich ich es direkt vor Augen. Ich schrei­te den klei­nen Raum ab und rich­te das Objek­tiv in alle Ecken. Die Schu­he sehen aus, als hät­te Vasa sie aus Alt­klei­der­con­tai­nern gefischt.

Vasa emp­fängt mich mit einem neu­gie­ri­gen Lächeln. Ob ich Jour­na­lis­tin sei? Oder Foto­gra­fin? Erst letz­te Woche sei ein Foto­graf hier gewe­sen. Ob ich ihn ken­ne? Woher soll sie ihn ken­nen, sagt S.
Aus ihrer Erklä­rung höre ich ser­bi­sche Wort für Schrift­stel­le­rin her­aus –
Aha, aha, sagt Vasa, sei­ne schma­len Augen fun­keln mich neu­gie­rig an. Er kichert, winkt mich nach hin­ten, in sei­ne Pri­vat­räum­lich­kei­ten. Greift in die Lade, holt einen gel­ben Scho­ko­rie­gel her­vor und drückt ihn mir in die Hand. Dann kramt er wei­ter, sei­ne Fin­ger ver­schwin­den tief in der Lade.
Er sucht nach einem Geschenk, erklärt Sneža­na.
Ich bekom­me ein Paar Minia­tur-Opan­ke in die Hand gedrückt – die habe er selbst gemacht, über­setzt Sneža­na.
Der alte Schus­ter holt einen in Leder ein­ge­fass­ten Spie­gel, sein Hoch­zeits­ge­schenk an sei­ne Frau. Zum Auf­schnü­ren, erklärt er mir, man soll nicht alle Tage in einen so beson­de­ren Spie­gel schau­en.

Wir schau­en uns alte Fotos und Zei­tungs­ar­ti­kel an. Frü­her sei er viel her­um­ge­kom­men, erzählt Vasa. Er zeigt mir ein Bild des größ­ten Schuhs, den er je ange­fer­tigt habe. Grö­ße 58, sagt er stolz. Und die Diplo­ma­ten, die sei­en alle bei ihm ein und aus­ge­gan­gen. Auch die öster­rei­chi­sche Bot­schaft sei ja nicht weit, sagt er. Aber von dort käme schon län­ger kei­ner mehr.
Geht ihr in Öster­reich nicht mehr zum Schus­ter? Lasst ihr eure Schu­he nicht mehr rich­ten?

Weißt du, sagt Sneža­na, Vasa hat­te vie­le Beru­fe.
Schuh­put­zer, Jour­na­list. Geheim­dienst­ler. Ein beweg­tes Leben.
Vasa nickt. Ja. Ein beweg­tes Leben. Er zwin­kert. Und vie­le Frau­en!

Vor der Schei­be steht eine Kun­din, sie ist auf der Suche nach einer Tasche. Als Vasa sie her­ein­ruft, wehrt sie ab, tut, als hät­te sie es eilig. Vasas Laden ist ein schwar­zes Loch, wen es hier her­ein ver­schlägt, der kommt nicht mehr so schnell her­aus.
S. und ich ver­ab­schie­den uns, es ist spät gewor­den. Komm wie­der, sagt Vasa, in zwan­zig Jah­ren, dann bin ich 108. Er grinst. Dann wird er plötz­lich ernst, sagt etwas zu S. Sie sol­le es über­setz­ten.
S. lacht. Vasa sage: Wenn du denen Mann triffst, über­las­se ihm nie­mals die Zügel.

Vor dem Geschäfts­lo­kal ver­ab­schie­de ich mich von S. Bis zum Tito-Muse­um, das ich mir heu­te noch anse­hen will, ist es noch weit. Dies­mal wer­de ich es nicht zu Fuß schaf­fen.