Das Kind, der Koffer, begreift gar nichts. Das Kind ist zu allem zu blöd. Es wäre besser gewesen, man hätte das Kind nicht bekommen. Dann müsste man sich jetzt nicht so herumplagen mit ihm. Sogar die Lehrerin sagt, es handle sich um ein ausgesprochen dummes Kind. Begreift angeblich gar nichts. Besondere Bedürfnisse nannte es die Lehrerin. Die Mutter weiß, was damit gemeint ist. Sonderschule. Wer will sich schon um ein deppertes Kind kümmern, wo man doch einen Lehrplan zu erfüllen hat? Die Mutter versteht die Lehrerin. Sie würde ihr Kind auch nicht unterrichten wollen. Wenn ein Kind einen beschränkten Horizont hat, kann man nicht viel tun. Auch als Lehrerin nicht. Sie hat einmal gelesen, dass der Intelligenzquozient angeboren sei. Wenn ein Kind dumm ist, kann man es fördern wie man will, es wird nicht gescheiter. Leider hat sie eines dieser dummen Kinder bekommen. Sollen sie es halt auf die Sonderschule schicken. Wie es danach weitergehen soll, weiß sie beim besten Willen nicht.
Wenn es wenigstens brav wäre. Angepasster.
Im Hort heißt es, das Kind sei verhaltensauffällig. Dabei haben die dort eine Ausbildung. Woher soll die Mutter wissen, warum ihr Kind schlägt und spuckt? Sie hat das ja nicht gelernt, dieses psychologische Zeugs. Sie hat getan, was sie konnte. Sollen die doch einmal so ein Kind zu Hause haben. Dann würden sie anders reden. Sie haben es ja bloß vier, fünf Stunden am Tag. Und bezahlt bekommen sie auch dafür, dass sie sich um das Kind kümmern. Die Mutter bekommt nichts. Nicht einmal ein Dankeschön. Jetzt behauptet man auch noch, es wäre ihre Schuld.
“Ihrem Kind geht es nicht gut, sonst würde es sich nicht so verhalten.”
Blödsinn. Dem Kind geht es gut. Es hat genug zum Spielen und ein eigenes Kinderzimmer hat es auch. Sogar einen Fernseher. Und geliebt wird es auch, das Kind. Das ist mehr, als sie sich hat wünschen können. Ihre Eltern haben sie nur geschlagen, damals. Und das Kinderzimmer hat sie sich mit den zwei jüngeren Brüdern teilen müssen.
“Die sind doch noch klein, jetzt führ dich nicht so auf”, hat der Vater gesagt, wenn sie sich beschwert hat. Umgezogen hat sie sich am Klo. Gelernt hat sie in der Küche, am Abend, nachdem sie beim Abwasch geholfen hatte und die Brüder schon in den Betten lagen.
Ihr Kind darf die Hausübung am Nachmittag machen. Unter professioneller Aufsicht. Dass es sogar dafür zu dumm ist, dafür kann sie nichts.
Manchmal muss sie an die Alte denken, die sie früher öfters in der Straßenbahn gesehen hat. An die siebzig war sie. Und immer den Sohn daneben. Viel zu großer Kopf, Schlitzaugen. Wie nennt man das heute? Mongoloid darf man ja nicht mehr sagen. Leid hat sie einem tun können. Immer den debilen erwachsenen Sohn im Schlepptau haben zu müssen.
Was wird das Kind auf der Sonderschule lernen? Ob es jemals einen anständigen Beruf ergreifen wird?
Der Vater meint, es wäre bloß faul und dass ihm der Knopf noch aufgehen würde.
Die Mutter weiß es besser. Dem Kind ist nicht zu helfen. Ständig verwechselt es die Buchstaben. Und rechnen kann es auch nicht. Nur im Zeichnen ist es gut. Aber um technischer Zeichner zu werden, müsste das Kind die Matura schaffen. Und vom Zeichnen allein kann man nicht leben.
Morgen hat sie einen Termin in der Schule. Dann werden die Lehrerin, die Direktorin und die Schulpsychologin entscheiden, was das beste für das Kind ist. Die Mutter wird sich der Meinung der anderen anschließen. Auch wenn der Vater dann wieder brüllen wird, dass sein Kind kein Idiot sei, dass die Lehrer die Idioten seien, weil sie nicht mehr wüssten, wie man sich Respekt verschaffe, wie man Kindern etwas beibringe.
Die Mutter schämt sich für die Ausbrüche des Vaters. Deswegen weiß er auch nichts von dem Termin in der Schule. Sie wird es ihm sagen, wenn alles beschlossene Sache ist.
Sie räumt den Wäscheständer weg und trägt die zusammengefalteten Leibchen und Hosen ins Kinderzimmer. Das Kind sitzt auf dem Teppich und spielt Lego. Es sieht sie aus seinen großen blauen Augen an als sie ihm über das Haar streicht und die Kastentür öffnet.
(©MK, 2009; erschienen in: DUM #49)