Die Freu­de woll­te er ins Haus holen, dar­um nann­te er sie Lae­ti­tia. Wenn schon ihre Mut­ter nichts Fröh­li­ches, nichts Aus­ge­las­se­nes mehr besaß. Ganz und gar ver­dorrt war sie, die Gier nach dem Leben auf einen hal­ben Qua­drat­mil­li­me­ter zusam­men­ge­schrumpft, und sogar der saß ganz weit hin­ten im Gehirn. Viel­leicht hät­te er sie damals nicht mit ihm fah­ren las­sen sol­len, viel­leicht fehl­ten ihr der Lärm und der Dreck, aus dem er sie her­aus­ge­ris­sen hat­te, und so wur­de auch sie lei­se, sau­ber und stumm, wie eine frisch reno­vier­te Alt­bau­woh­nung mit schall­dich­ten Fens­tern und einer zwan­zig Zen­ti­me­ter dicken Sty­ro­por­de­cke. 
In Paler­mo hat­te er sie ken­nen gelernt. Sofia mit den raben­schwar­zen Füßen und dem aus­ge­wa­sche­nen Blu­men­kleid­chen, gera­de ein­mal sieb­zehn Jah­re alt, und er damals schon ein im Leben fest­ge­fah­re­ner Pro­fes­sor für Geschich­te und Latein. Eines Som­mer­ta­ges war sie ihm in den Weg gesprun­gen und hat­te ihr Lachen über sei­ne Zehen sprin­gen las­sen. Dass sie ihm Paler­mo zei­gen wol­le, sag­te sie, und schon zerr­te sie ihn am Arm. Er woll­te ihr Geld geben, doch sie lach­te ihn nur aus, führ­te ihn statt­des­sen durch die ver­win­kel­ten Gas­sen und sag­te: “Steck dei­nen Foto­ap­pa­rat weg, Paler­mo muss man zwi­schen den Zehen spü­ren!” Dabei zeig­te sie auf ihre schwar­zen Fuß­soh­len und zwang Hugo, Schu­he und Socken von den Füßen zu strei­fen. Sie erin­ner­te ihn an ein Kind. Den­noch zog er sei­ne Schu­he und Socken aus und ließ sich von ihr zum Meer füh­ren, wo er sich einen Glas­split­ter ein­trat und auf ihre Schul­ter gestützt wei­ter­hum­peln muss­te. Tags dar­auf fuhr er mit dem Taxi ins Kran­ken­haus, so geschwol­len war die Wun­de. Der Arzt mein­te, dass es kei­ne gute Idee sei, bar­fuß durch die Stadt zu lau­fen und ver­schrieb Hugo rosa­far­be­ne Tablet­ten sowie eine übel rie­chen­de Sal­be. Am Abend saß Hugo schon wie­der mit Sofia am Hafen.
Als die Ent­zün­dung abge­klun­gen war, fuh­ren sie an den Strand von Cam­po­fe­li­ce. Sofia tauch­te unter Hugos Bei­nen durch, schlang ihre Arme um sei­nen Hals und küss­te ihn. Am Ende sei­nes Urlaubs kam sie mit ihm. Die Mut­ter, Gra­zia Anna, stand wei­nend am Bahn­hof und fleh­te, Sofia möge es sich doch noch ein­mal über­le­gen, doch Sofia war nicht umzu­stim­men. Wenn ein sieb­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen bis über bei­de Ohren ver­liebt ist, was soll da eine Mut­ter schon aus­rich­ten? Und Sofia war ver­liebt, nicht nur in Hugo, son­dern auch in die Idee, Paler­mo zu ver­las­sen. Also stieg sie in den Zug, mit nichts ande­rem als einer alten Leder­ta­sche, zwei Klei­dern, ein paar Unter­ho­sen und einem Nacht­hemd. Bis zur Gren­ze schlug Hugo immer wie­der die Augen auf um nach­zu­se­hen, ob es wirk­lich wahr war, dass sie auf der Lie­ge über ihm lag. Allein schon ihr lei­ses Schnar­chen kam ihm vor wie ein Wun­der. Sechs Wochen zuvor war er allein nach Sizi­li­en auf­ge­bro­chen, jetzt kam er mit einem Engel nach Graz zurück. 
Doch die Zoll­be­am­ten beschlag­nahm­ten Sofi­as Lachen, lie­ßen es nicht ein­rei­sen.
So ist das mit dem Glück. Da wünscht man sich etwas ganz fest, und kaum hat man es, möch­te man es am liebs­ten wie­der her­ge­ben. Sobald Sofia Paler­mo ver­las­sen hat­te, sehn­te sie sich auch schon wie­der zurück, zur Fami­lie, zu den Freun­den, zu den engen Gas­sen und der Mee­res­luft. Die Lie­be zu Hugo war trotz­dem stär­ker, Sofia blieb. 
Nach zwei Jah­ren kam das Kind, Lae­ti­tia Maria, die Freu­de, die Fröh­lich­keit. Stolz hielt der Vater das Bün­del im Arm. “Schau!”, sag­te er, “so schau doch nur!”, doch Sofia woll­te nicht schau­en. Sie klapp­te die Lider wie Roll­lä­den nach unten und ließ ihn mit der Toch­ter im Arm ste­hen, inmit­ten von Blu­men und Ted­dy­bä­ren.

MK, 2009–2011;
Ein Ori­gi­nal­ka­pi­tel aus dem Manu­skript “Mit­tel­stadt­rau­schen” – erschie­nen 2011 in Driesch, Zeit­schrift für Lite­ra­tur # 5

Nach­trag 2013: Mitt­ler­wei­le gibt es das Buch!