Thomas Otto Dominica Wurst trat unter dem Torbogens seiner Wohnhausanlage hervor. Er wollte Zeitungen holen, fladern, stibitzen, klauen. Fühlte sich dabei als Lausbub, und das mit seinen 56. Dabei war Thomas Otto Domenica noch nie ein Lausbub gewesen, auch als Bub nicht, und kaum nicht mehr Bub: immer Steirerhut und Föhnfrisur. Blonde Welle und Vogelfeder, reich mir die Hand/ das Haar. Außerdem: Was heißt hier Lausbubenstreich? Da sieht man den moralischen fest verankerten Charakter des Thomas Otto Dominica. Glaubt er denn wirklich, er kann das Fladern der Sonntagszeitung als Lausbubenstreich betiteln? Dabei fladert die sowieso jeder, wer sie noch zahlt, ist wirklich selber schuld. Thomas Otto Domenica Wurst, kurz T.O.D., trat also unter dem Torbogen seiner Wohnhausanlage hervor, denn er war gern über die politische und gesellschaftliche Lage seiner rotweißroten Nation informiert. Da platschte es auf einmal auf den Gehsteig, spritzte auf T.O.D.s Schuhe, landete auf seinem Kopf. Ich schreibe es hier in der Reihenfolge, wie T.O.D. selbst die Geschehnisse wahrnahm: Gehsteig, Schuhe, Kopf. In Wirklichkeit war es natürlich genau umgekehrt: Kopf, Gehsteig Schuhe. Oder: Kopf, Schuhe, Gehsteig ‑so genau lässt sich das im Nachhinein nicht mehr sagen, vielleicht ja auch: Kopf, Schuhe (weil es vom hinunterschauenden Wurstkopf aufs Leder tropfte), Gehsteig und wiederum Schuhe (weil die Flüssigkeit durch den Aufprall am Asphalt zurück spritze). Wie auch immer. Da stand er. Wie ein begossener Pudel, ein Ang’schütter. Sah hinauf, und da saßen sie: aufgefädelt wie die Spatzen am Drahtseil, vier Teenager, je eine Bierdose in der Hand (eine davon war jetzt wohl leer, wie T.O.D. vermutete). Wie die Truthähne gackerten sie und ließen die geröteten Wangen hin und her schaukeln, verspritzten Bier, diesmal aus den Mundwinkeln.
Da reichte es dem sonst so gutmütigen Thomas Otto Domenica, ja, es reichte ihm wirklich, endgültig reichte es ihm. Etwas in ihm zuckte aus, brannte durch, brach auf. Thomas Otto Domenica Wurst drehte sich am nassen Absatz um und ging festen Schrittes unter dem Torbogen durch, am Pennymarkt vorbei und hinauf zu sich in die Wohnung. Grüßte kurz das Hirschgeweih, Weidmanns Heil, und schon trippelte er die Treppen hinunter, wieder durch die Glastür, am Penny vorbei, nur dass er diesmal nicht unter dem Torbogen hindurchmarschierte, sondern selbst die Stufen zur Brüstung hinaufstieg. Da wurden die Wangen der Teenager bleich, als sie ihn sahen, kippten die restlichen halbvollen Bier auf den Gehsteig. (Diesmal traf es eine alte Frau mit Pudel, nein, eigentlich nur den Pudel, der dann wirklich ein begossener Pudel war, aber kein Ang´schütter, das ist eben der Unterschied zwischen Mann und Tier.)
Während sich unten der Pudel schüttelte, schüttelten sich die vier Teenager oben, Schüttelfrost pur, zitterten um die Wette, das erschwerte das Zielen erheblich. Vielleicht brauchte T.O.D. deswegen fünf Anläufe, vielleicht musste er deswegen sooft ausholen, die Sense weit über dem Kopf. Da kullerten die ersten Köpfe. liefen alle unterm roten Pennyschild zusammen, sahen nach, schauten und glotzten. Ein Amoklauf mitten im zweiten Wiener Gemeindebezirk, in der Wiesen, wie das Grundstück hier hieß, nur das jetzt ein Genossenschaftsbau auf der einst so saftigen Wiese stand. Weiß war er, und sein Glas glänzte in der Herbstsonne, die Thujenhecken und Ginsterbüsche in Reih und Glied, sauber und gepflegt. Und auch Thomas Otto Domnica der Mäher war ein sauberer, gepflegter Herr und klopfte sich den Sonntagsanzug ab. Dann ging er weiter, die Sense lässig über die Schulter geworfen, ging über die Brücke und in den ersten Bezirk hinein. Die Marc Aurelstraße hoch bis zum Hohen Markt, wo er das Mordgerät an eine Würstelbude lehnte und sich eine Eitrige bestellte. Dann tat er einen Schritt nach links und entnahm aus einer der bereitgestellten Plastiktaschen endlich die Sonntagszeitung. Schlug sie auf und aß in Ruhe sein Käsekreiner. Dort fand man ihn schließlich, mit Hilfe des Würstelstandbetreibers Leo Lumpenscheider, der, als man die T.O.D.s Daten aufnahm, anmerkte: „Wurst, was für ein Name!“
Thomas Otto Domnica Wurst, der Massenmörder, stand tags darauf in den Zeitungen. Als hochgefährlich bezeichnete ihn auch der psychiatrische Gutachter, wobei er sagte, dass er sich noch nicht 100% sicher sei, ob es sich tatsächlich um einen Er handelte, einen MassenmördER also, und nicht um eine Massenmörderin. Seelisch gesehen. Der Name Thomas Otto sei ja eindeutig maskuliner Natur und hätten es die lieben Eltern bei diesen beiden Namen belassen, wäre wohl nie etwas geschehen. Beim Namen Domenica allerdings handle es sich, wie wohl auch beim Maria im Brandauernamen, um eine sentimentale Erinnerung. In T.O.D.s Fall ist es die Erinnerung an den Urgroßvater der ebenfalls Domenica im zweiten Namen hieß. Übrigens ein sehr imposanter Herr, dieser Hr Dr. Dr. Otto Domenica Wurst — studierter Doktor der Medizin und Philosophie, der dann aber als Friedhofswächter am Zentralfriedhof arbeitete. Mit dabei immer ein kleiner Zwerpudel, genannt Ottilein oder Ottilie (je nach Geschlecht, denn die Pudel in Otto Domenicas Leben hatten sich abgewechselt), aber alle hatten sie für ihr Leben gern Gänseleberpastete geschmaust. (Hier schwenkte die Zeitung ein wenig aus, sah man ein Bild des Otto Domenica Senior, gezwirbelter Schnauzbart und Pfeife im Mundeck, Lederschurz und Spaten in der Hand, links davon klein: einer der unzähligen Ottileins oder Ottilien, mit Pastetengatsch ums Maul)
Was aber wirklich interessant war: Abgesehen davon, dass der dritte Beiname Domenica den Betroffenen in eine tiefe Unsicherheit stürzte, so der Futachter, Zitat: Solch ein Name kommt einer Penisamputation gleich“ – so sei es doch auch ausgerechnet dieses Domenica gewesen, das den Namen für Herrn Wurst erst vervollständigt hätte. Ein übler Scherz der Eltern, die vor den Großvater Doppelnamen Otto Domenica ausgerechnet einen Namen wie Thomas setzen mussten.
Tatsache war: Der Angeklagte hielt sich für den Tod. Wen wundert´s.
Es folgten zwei Seiten Sonderberichterstattung. Titel: Was ist dran an den haarsträubenden Geständnissen des T.O.D. Wurst? Nach einer Woche wusste man es, hatte man alles ausgegraben, hatte man in Simmering, Ottakring und Hernals die Schaufeln zum Einsatz gebracht. Siebzehn Gräber insgesamt, danach hörte man auf, gab man sich geschlagen, glaubte man Thomas Otto Domenica Wuscht aufs Wort. Grauen machte sich breit, setzte sich als Gänsehaut auf den Rücken der Nation. Da blieb selbst dem Bundespräsidenten die Sprache weg, verabsentierte sich das Dauergrinsen des Bundeskanzlers.
Während der Patient von Mo-Fr ein ganz normales Leben geführt hatte, wurde er am Sonntag zur Bestie. Die Reporter begannen, die Mordtage aufzurollen, jeden einzelnen Totensonntag. Aufstehen, Zeitunglesen, morden, Würstelstand.
„Ich bin die Allegorie des Todes“, las man ein T.O.D. Zitat in einer der bunteren Zeitungen. „Ich mähe unter den Lebenden. Die Zeit der Auslese ist gekommen!“
Thomas Otto Domenica. Was wäre er für ein Mensch gewesen, hätte man ihn doch bloß Matthias Otto Domenic Ernst genannt. Ein modebewusster Würstelbeißer? Einer mit einer blauen Feder im Steirerhut herum läuft? Einer, der ganz harmlos die Sonntagszeitung fladert und in sein Würstel beißt.
Denn das ist wirklich bemerkenswert. Thomas Otto Domenica Wurst ging Sonntags nie ohne Sense und Stundenglas außer Haus. Normalerweise trieb es sich in der Parkanlage nahe des Pensionistenheimes auf der Türkenschanz herum. Stellte sich vor die Alten und zeigte seine Sense. Mehr brauchte es nicht zum Herzinfarkt, Requiescat in pace.
Nun, hätten die Jungen dem Alter Respekt erwiesen, würden sie heute noch am Leben sein. Denn Thomas Otto Dominica Wurst hatte wirklich nur die Zeitung holen wollen. Die Zeitung, einen Schluck Kaffee und danach ab zum Pensionistenheim.
Diese Geschichte entstand im November 2011 — für den “Totensonntag” unserer Lesebühne “noch Dichter!”. Erschienen ist sie in DUM – Das Ultimative Magazin #64.