Dass das nicht mög­lich sei, dass er doch nicht ein­fach so zurück­kom­men kön­ne, so mir nichts, dir nichts, nach so vie­len Jah­ren, wie ein von der Gefan­gen­schaft Heim­ge­kehr­ter. Und über­haupt, jetzt, wo sie doch gera­de alles ver­kauft habe, das Haus und die Fel­der. Die Groß­mutter schüt­tel­te den Kopf, immer wie­der, nein-nein-nein, von links nach rechts und wie­der zurück, nein-nein-nein, biss mit dem Unter­kie­fer fest auf den Ober­kie­fer, nein-nein-nein und noch­mals nein, er sol­le wie­der dort­hin zurück, wo er her­ge­kom­men sei, sie kön­ne ihn hier nicht mehr brau­chen. Und außer­dem zie­he sie bald nach Graz, das Haus sei bereits ver­kauft, alle Papie­re unter­schrie­ben, der Kauf­ver­trag und auch der Auf­trag für die Umzugs­fir­ma, mor­gen käme man die Kar­tons abho­len, viel sei­en es ohne­hin nicht. „Wozu das alte Klum­pert mit­neh­men?“ Da habe der Groß­va­ter mit der Faust auf den Tisch geschla­gen. So erzählt sie es mir, jetzt, da sie weiß, dass der Krebs sie bald auf­fres­sen wird, dass nichts übrig blei­ben wird von ihr. Mit der Groß­mutter geht es zu Ende, das sagt sie selbst: „Mit mir is bald aus, aus und vor­bei.“ Aber das müs­se sie mir noch erzäh­len, wie der Groß­va­ter damals plötz­lich im Tür­rah­men gestan­den sei, als wol­le er wie­der ein­zie­hen bei ihr, als sei­en kei­ne sechs Jah­re ver­gan­gen. Mit den schwe­ren Arbeits­stie­feln sei er in die Stu­be gepol­tert und habe sich auf die Eck­bank gesetzt, gefragt, was es zu essen gäbe. Da habe sie ihm gesagt, dass sie ihn nicht mehr zurück wol­le, und dass sie nach Graz zie­hen wür­de. Die Faust des Groß­va­ters habe ein pum­pern­des Geräusch gemacht, als sie auf dem Tisch auf­schlug. Da habe sie sich dann schon ein wenig gefürch­tet, sagt die Groß­mutter. Obwohl, eines müs­se sie ihm las­sen, geschla­gen habe er sie nie, nur den Buben habe er geschla­gen, grün und blau ver­dro­schen habe er ihn, und sie sei dane­ben gestan­den, habe zuge­schaut, für ihn, habe ihm ihre Kraft geschickt. „Men­tal, ver­stehst du?“ Nur ein­mal war sie dazwi­schen gegan­gen, das war, als sie gewusst hat: Wenn ich jetzt nicht ein­greif´, dann haut er mir den Buben tot. „Damals war das noch so“, sagt die Groß­mutter, als müs­se sie sich noch alles geschwind von der See­le reden, „damals hat es gehei­ßen: Wenn du dein Kind nicht züch­tigst, ver­kommt sei­ne See­le.“ Ver­kom­men ist er dann trotz­dem, der Bub, und sei­ne See­le dazu, ein Säu­fer ist er gewor­den, wie der Groß­va­ter, hat sei­ne Frau geschla­gen. Das wenigs­tens habe der Groß­va­ter nie getan, sagt die Groß­mutter, die Hand habe er nie gegen sie erho­ben, sei­ne Tak­tik sei gewe­sen: Igno­rie­ren und auf­ste­hen. Dazu habe es nicht ein­mal einen Streit gebraucht, da habe ein schie­fer Blick aus­ge­reicht. Des­we­gen habe sie auch kei­ne Angst gehabt, als sie das mit dem „alten Klum­pert“ gesagt habe, ein biss­chen viel­leicht, das schon, als er mit der Faust auf den Tisch geschla­gen habe, aber haupt­säch­lich habe sie sich gewun­dert, dass er nicht auf­ge­stan­den und in sein Wirts­haus gegan­gen sei, so wie er es immer getan habe, vor sei­nem Ver­schwin­den. Zwei Welt­krie­ge habe der Groß­va­ter über­lebt, den ers­ten noch als Kind, den zwei­ten dann am Getrei­de­feld, aus bei­den sei er unver­wun­det her­aus­ge­kom­men. Anders als der Vater der Groß­muter, den habe es schon im ers­ten Krieg erwischt, dabei sei er so ein fescher Mann gewe­sen. Als hät­te man auf die Feschen weni­ger geschos­sen, als sei erst das Aus­lö­schen von etwas so Schö­nem wie dem Urgroß­va­ter das eigent­li­che Ver­bre­chen gewe­sen. Dass der Urgroß­va­ter in den Tod gegan­gen ist für Kai­ser, Gott und Vater­land, das hat hin­ter­her kei­nen mehr inter­es­siert, schon gar nicht in einem Dorf wie Unz­markt, dort­hin war der Kai­ser nie gekom­men, maxi­mal der Wei­zen für sei­ne Kai­ser­sem­meln kam viel­leicht von dort, aber sogar das ist unwahr­schein­lich. Der Wei­zen für die Kai­ser­li­che Armee hin­ge­gen sei tat­säch­lich aus Unz­markt gewe­sen, erzählt die Groß­mutter, und auch die Hen­derln und die Schwein­derln für die Offi­ziers­ver­pfle­gung. „Die ein­fa­chen Sol­da­ten sol­len ja nur schimm­li­ges Gemü­se bekom­men haben“, sagt sie, dabei kann sie das gar nicht wis­sen, denn der Urgroß­va­ter ist ja nie zurück­ge­kom­men aus dem Krieg, und sie selbst hat­te immer genug fri­sches Gemü­se als Kind, in Unz­markt. Was denn über­haupt der Kai­ser und der Urgroß­va­ter mit dem Groß­va­ter zu tun hät­ten, fra­ge ich. „Na, weil er doch zwei Krie­ge über­lebt hat, dein Groß­va­ter“, sagt die Groß­mutter und schließt die Augen. Sie liegt auf einem der gepols­ter­ten Gar­ten­bet­ten und hat eine Decke auf den Knien, es ist noch frisch, nur die Son­ne scheint schon warm auf uns her­un­ter. In der Küche sei sie gestan­den, sagt sie, am Herd, und es sei genau­so ein Tag gewe­sen wie heu­te, am Anfang vom Früh­ling, man habe schon die ers­ten Kro­kus­se gese­hen. Sie habe den gan­zen Tag alles, was sie behal­ten woll­te, in Kis­ten ver­staut und der Nach­bar habe ihr gehol­fen, das Gerüm­pel weg­zu­füh­ren, damit sie das Haus ordent­lich über­ge­ben konn­te, nicht mit dem gan­zen alten Klum­pert dar­in. Und dann, gera­de als sie sich eine Erd­äp­fel­sup­pe habe kochen wol­len, sei die Tür auf­ge­sprun­gen und der Groß­va­ter sei im Zim­mer gestan­den, als sei nichts gesche­hen, als hät­te er sich nicht sechs Jah­ren zuvor das Genick gebro­chen bei sei­ner Arbeit im Koh­le­berg­werk. Dass der Groß­va­ter nicht so gewe­sen sei, als ihn ken­nen gelernt habe, sagt die Groß­mutter. Dass er ein net­ter, sanf­ter Mann gewe­sen sei, nur dann, in der Ehe, sei er plötz­lich derb gewor­den, sei nach der Arbeit sau­fen gegan­gen und ihr beim Heim­kom­men an die Wäsche mit sei­nen schwar­zen, schwie­li­gen Hän­den. Und sie jedes Mal schwan­ger, zuerst mit dem Onkel Erich, dann mit dem Onkel Jür­gen und dann mit der Sil­via. Der Jür­gen ist dann mit dem Motor­rad ver­un­glückt, sechs Jah­re nach­dem der Groß­va­ter den Arbeits­un­fall hat­te, und der Erich ist nach Wien, hat am Bau begon­nen und genau­so gesof­fen wie der Groß­va­ter, hat gehei­ra­tet und ein Kind bekom­men, jetzt ist er wie­der geschie­den und darf sein Kind nicht mehr sehen. Nur aus der Sil­via ist etwas gewor­den, die hat stu­diert und gehei­ra­tet und mit sie­ben­und­zwan­zig hat sie dann ein Kind bekom­men. „Der Wal­ter ist ein guter Mann“, sagt die Groß­mutter, „der hat die Sil­via und dich gern. Und wie flei­ßig er war, beim Haus­bau damals.“ Dass das gar nicht so leicht gewe­sen sei, nach Graz zu zie­hen, nach­dem ihr der Groß­va­ter im Traum erschie­nen sei. Als hät­te sie ihm die Hei­mat genom­men, als müs­se sein Geist jetzt im Haus frem­der Leu­te woh­nen. „Glaubst du, er spukt jetzt dort her­um?“, fragt die Groß­mutter und zieht sich die Decke über den Ober­kör­per, lacht dabei. Ich stel­le mir ihre kaput­ten Hirn­syn­ap­sen vor, und dass sie jetzt ver­rückt wird, dass ihr das zu wün­schen sei, denn der Arzt hat gesagt, dass die nächs­ten Wochen schlimm wer­den. Die Groß­mutter wohnt im ers­ten Stock im Haus mei­ner Eltern. Als Kind kam ich zu ihr zum Pup­pen­spie­len, und im Som­mer brach­te sie mir das Feder­ball­spiel bei. Mei­ne Groß­mutter war immer eine Groß­mutter ohne Groß­va­ter, die im Gar­ten saß und Kreuz­wort­rät­sel lös­te, sich in dum­me Lie­bes­ge­schich­ten ver­tief­te und manch­mal Tisch­tü­cher mit Sti­cke­rei­en ver­zier­te. Nur im Schlaf­zim­mer sah man den ver­un­glück­ten Groß­va­ter, vor einem gel­ben Trak­tor, mir gefiel er immer bes­ser als der Urgroß­va­ter mit sei­nem Franz-Joseph-Schnurr­bart. Wenn ich als Kind vor dem Foto ste­hen blieb, dach­te ich immer arme Groß­mutter, und stell­te mir den Tag vor, an dem man an ihre Tür geklopft und ihr mit­ge­teilt hat­te, dass ihr Mann ver­un­glückt sei. Ob sie denn nicht wenigs­tens am Anfang in den Groß­va­ter ver­liebt gewe­sen sei, fra­ge ich die Groß­mutter. „Ach Kind­chen“, sagt sie, „was hab ich denn mit mei­nen sieb­zehn schon von der Lie­be gewusst? Er hat halt gut ausg´schaut, und so vie­le hat´s wäh­rend dem Krieg nicht geben, in die man sich hätt´ ver­lie­ben kön­nen.“

​​​wei­ter­le­sen in: Die Ram­pe, Hef­te für Lite­ra­tur, Aus­ga­be 2/11