Als sie den Artner finden, mit dem ganzen Matsch in Mund und Nase, und noch mehr Matsch auf Pulli und Hose, wird dem Kommissar der Göllersdorfer Polizei ziemlich übel. Sagen wir es einmal so: Es ist sein erster Toter.
Schade eigentlich, denkt er, als er sich nach einem Stamperl Obstler vom ersten Schock erholt, die Blutwurst vom Artner war die beste im ganzen Hollabrunner Umkreis.
Er setzt sich auf die Bank und hält dem blassen Jungen, dessen Stirn aussieht, als würde eine Kompanie roter Waldameisen darüber spazieren, eine Zigarette unter die Nase. Gierig starrt der Fleischerlehrling auf das Tabakstangerl, wehrt jedoch mit erhobenen Händen ab.
“Aber geh, weiß doch eh jeder, dass du rauchst“, sagt Mandl.
Kaum einer über fünfzehn, der nicht raucht. Nur der Enkel von der Braitwieserin, der Martin, raucht und trinkt nichts. Fast schon unheimlich, der Bursche. Will Schauspieler werden, und das, wo seine Eltern fest damit rechnen, dass er dereinst den Hof übernehmen wird. Das wird eines Tages noch zum Problem werden, denkt Mandl.
“Also noch mal. Du bist hereingekommen, und hast deinen Chef gefunden. Hast auch wirklich nichts angriffen?”
“Nein.”
Aber vollgekotzt hat der Fleischerlehrling seinen Chef. Von oben bis unten. Dabei hat der Gerichtsmediziner gemeint, das Opfer selbst müsse sich schon übergeben haben, weil nämlich drei Schichten auf dem Pulli vom Artner zu erkennen waren. Eine einzige Sauerei. Aber die in Wien sind das ja gewöhnt, denen wird nicht so bald schlecht.
Die werden ihm den Fall sowieso abnehmen. Vor allem, wo der Artner ja so etwas wie ein Prominenter gewesen ist. Viermal schon hat er die Medaille beim internationalen Blutwurstwettbewerb von diesen französischen Blunznrittern gewonnen, diesmal für seine neueste Kreation: Blutwurst mit Heidelbeeren.
Mandl lässt den Buben zurück und verlässt die kleine Wirtsstube, die der Artner erst voriges Jahr an seinen Fleischerladen hat anbauen lassen.
Draußen ist es kalt geworden. Im Fernsehen haben sie sogar von Schnee bis in die Niederungen gesprochen. Verrückt ist das schon. Zuerst den ganzen Winter keine Kälte und jetzt soll der Schnee kommen.
Oberstleutnant Roth aus Wien ist ein gut aussehender Mann Mitte Vierzig. Ergraute Igelfrisur, elegant geformte Nase, eckige Brillengläser. Er sitzt Mandl an dem kleinen Tisch gegenüber, zwischen den beiden eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser. Mandl berichtet in knappen Zügen von den bisherigen Ermittlungen. Dass der Artner bereits viermal den Wettbewerb der französischen Bruderschaft der Ritter der Blutwurst gewonnen hat, imponiert und amüsiert Roth zu gleichen Teilen.
“Jetzt gibt es sogar schon Ritter der Blutwurst. Klingt nach Monty Python, finden Sie nicht?”
Ein blonder Polizeianwärter schiebt seinen Kopf zur Tür herein: “Herr Kommissar, die Gerichtsmedizin ist am Apparat. Es heißt, es wäre dringend.”
Mandl erhebt sich und geht zum Apparat. Sieht auf Roth, der sitzen geblieben ist. “Sie haben die Wurst analysiert”, sagt er, als er den Hörer wieder auflegt.
“Und? Ist es Artners legendäre Heidelblunzen, wie Sie sie nannten?”
“Tja, wie man es nimmt. Heidelbeeren waren drin.”
“Der Mann ist an einem Herzinfarkt gestorben”, erfahren Mandl und Roth im gerichtsmedizinischen Institut in Wien. “Gewaltanwendungen sind keine zu finden. Es scheint fast, als hätte er sich zu Tode gefressen.”
Roth schüttelt den Kopf. “Das gibt es doch nicht.”
“Fest steht”, fasst der Mediziner zusammen, “dass sich in der Wurst neben Schweineblut auch menschliches Blut befand. Zu achtundneunziger Wahrscheinlichkeit das des Toten.”
Mandl wird übel. Muss an die Blutwurstverkostung vor zwei Wochen denken und wie seine Frau immer wieder zugegriffen hat.
Der örtliche Arzt empfängt die Ermittler mit kräftigem Händedruck. Dass der Artner ein Herzinfarktkandidat gewesen sei, klärt er die Beamten auf. “Das viele Fett und dann noch der Stress und die Aufregung.”
“Und die Einstiche an Artners Venen? Sind Ihnen die nie aufgefallen”, fragt Mandl.
Der Arzt zuckt die Schultern, lehnt sich zurück und verschränkt die Hände am Hinterkopf. “Plasma spenden ist er alle paar Monate gegangen. Die Leute tun ja alles fürs Geld. Dabei ist er nicht einmal arm gewesen, der Artner. Hat ja eine Menge verdient, seitdem er die Preise gewonnen hat.”
Als die beiden Beamten die Arztpraxis verlassen, weht ihnen ein dichter Vorhang aus Schneeflocken entgegen.
“Ein unangenehmer Zeitgenosse, dieser Doktor Furthmänger”, sagt Roth und klettert in den Fond.
Und dann kommen die Osterferien samt Gründonnerstagspinat, Heringsschmaus und der fleischlichen Auferstehung, Halleluja! Roth fährt nach Wien und auch Mandl darf über dem Geselchten mit Kraut und Knödel die Blutwurst vom Artner vergessen. Viel haben sie ohnehin nicht herausgefunden. Der Artner hat seine Wurst mit Eigenblut angereichert und ist daran schließlich selbst zugrunde gegangen. Die Frage nach dem Warum wird wohl nie geklärt werden, aber das ist schließlich nicht Aufgabe der örtlichen Polizei, und die der Wiener schon gar nicht.
Genüsslich schwenkt Mandl das Weinglas.
“Schon eine seltsame Geschichte”, sagt er zu seiner Frau. “Auf die Idee musst du einmal kommen. Dass du solange isst, bis zu stirbst.”
“Und was, wenn ihn jemand dazu gezwungen hat?”
“Wer soll ihn schon dazu zwingen?”
Mandl nimmt einen Schluck vom Rotwein. Am Dienstag wird er den Abschlussbericht verfassen.
Als es an der Haustüre schellt, putzt sich Mandl gerade die Zähne. Seine Frau öffnet die Tür und lässt die späte Besucherin herein.
“Ja, Frau Braitwieser, was ist denn mit Ihnen los?”
“Den Gustl. Ich muss sofort den Gustl sprechen.”
Gar nicht gut schaut sie aus, die alte Braitwieserin, wie sie in die Kissen sinkt, das Gesicht wie Mozarella, die Finger wie die Äste einer Trauerweide im Wind. Gundula Mandl führt die Besucherin zum Sofa und nimmt dann nimmt jeweils zwei Stiegen auf einmal.
“Die Braitwieserin?”, fragt Gustav Mandl, und wischt sich den Schaum vom Mund. Da muss was passiert sein, denkt er. Jetzt ist der Breitwiese auf den Bub losgegangen.
“Ist was mit dem Martin?”, fragt er deswegen auch gleich, als er ins Wohnzimmer tritt.
“Der Martin?”, fragt die alte Bäuerin, sichtlich verwirrt. “Warum mit dem Martin? Erpresst hab ich ihn!”
“Wen?”, hebt Mandl den Kopf.
“Na, den Artner. Wegen seiner Blunzen. Weil es doch mein Rezept gewesen ist, mit dem er den Preis gewonnen hat!”
“Was? Sie haben ihm den Tipp mit dem Blut gegeben?”, schiebt Mandl die Nase hoch.
“Was für ein Blut denn? In jede Blunzn gehört doch Blut. Aber die Mischung, die hat er von mir! Das Rezept hat mir die Resi damals gestohlen!”
“Die Mutter vom Artner hat Ihnen also das Rezept gestohlen. So so”, sagt Mandl, dessen Gesicht sich wieder entspannt. Bestimmt ist die Alte ein wenig verwirrt, denkt er. Lebt auch schon mehr in der Vergangenheit als ihr gut tut.
“Und? Hat er sich erpressen lassen, der Artner?”
Die Alte greift in ihre Tasche, fingert ein Kuvert heraus und hält es dem Mandl hin. Der Ermittler entnimmt ihm zehn Hunderteuroscheine. Jetzt wundert er sich aber doch ein wenig.
“Ich hab nochmals zehn verlangt”, flüstert die alte Frau Braitwieser und senkt den Blick. “Am selben Abend hat er sich dann umgebracht.”
Mandl kratzt sich am Kinn.
“Was ich nicht versteh”, sagt er, “Was war denn so einzigartig an dem Rezept, das Ihnen die Artner gestohlen hat? Hatten Sie etwa die Idee mit den Heidelbeeren?”
“Aber wo!”, sagt die Alte und zieht die Mundwinkel nach unten. “Heidelbeeren gehören doch in keine Blunzen. Aber die Idee mit den Stelzen, die hat er von mir. Ich hab immer Stelzen verwendet. Nicht diese billigen Schwarten, nur bestes Stelzenfleisch!”
“Das ist alles?”, fragt Mandl und stützt die Ellenbogen an den Unterschenkeln ab. “Meine Mutter hat auch immer Stelzen verwendet. Der Artner hat den Preis sicherlich nicht gewonnen, weil er Stelzen beigemengt hat, das können Sie mir glauben.”
“Und warum hat er dann gezahlt?”
Genau das ist es, was auch Mandl beschäftigt. Wenn es stimmt, was die alte Bäuerin erzählt, dann hat der Artner satte tausend Euro hingeblättert. Aber warum sollte sie ihn anlügen? Ganz abgesehen davon, dass sie das Geld ja irgendwoher haben muss.
“Wie genau haben Sie den Artner eigentlich erpresst?”
In den Augen der Alten blitzt etwas auf, das Gustav Mandl nur von Kindern kennt.
“Einen Brief hab ich ihm geschrieben. Dass ich weiß, was in seiner Blunzn drin ist. Und dass sich die Zeitung sicherlich sehr dafür interessieren tät.“
Natürlich hatte Maria Braitweisers nicht an Menschenblut gedacht. Mag sein, dass es im Jahr Siebenundvierzig, in dem die damals junge Artner ihrer Freundin das Rezept gestohlen hatte, eine Seltenheit war, teures Stelzenfleisch in die Blutwurst zu mengen, heute ist diese Vorgehensweise alles andere als preisverdächtig. Kein Wunder also, dass der Artner gedacht haben muss, von der Breitwieserin ertappt worden zu sein. Warum er dann jedoch die ganze Blutwurst hinuntergeschluckt hat, bis zum bitteren Herzinfarkt, wird Mandl nie verstehen. Vielleicht, denkt er, hat er ja nicht gewusst, wohin mit seiner Kreation, und hat kauend und schluckend versucht, um seine Ehre als Blunzenritter zu kämpfen.
Als am Osterdienstag das Labor in Wien bestätigt, das Blut in der Wurst sei weder mit HIV infiziert noch in irgendeiner anderen Weise gesundheitsgefährdend, schließt man auch in Hollabrunn den Fall ab.
Am Abend spaziert Mandl hinauf zum Braitwieser-Hof. Dort stellt man ihm ein Weinglas mit grünen Ranken sowie ein Brett für Speck und Käse hin.
“Und, Martin?”, fragt Mandl. “Weißt schon, was du nach der Lehrzeit machen wirst?”
“Schauspieler wird er!”, sagt die Mutter.
“Aber zur Lesezeit kommt er. Das ist die Abmachung”, sagt der Vater.
Mandl grinst zufrieden. Es tut gut zu wissen, dass man die Leute manchmal doch nicht so gut kennt, wie man meint.
Die Erpressung hat er in seinem Bericht nicht erwähnt. Der Martin wird das Geld gebrauchen können in Wien, und die alte Breitwieser ist gestraft genug, zu glauben, dass sich der Artner aus Angst zu Tode gefressen hat.
©MK, 2008, erschienen in UN(D)PATHOLOGISCHES II Krefeld Verlag.