Edi­to­ri­al & Radies­chen #69

Wir haben alles. Wir jam­mern auf hohem Niveau. Wir tun uns leid, wenn das Manu­skript nicht ange­nom­men wird, wenn es kei­ne Lobes­hym­nen reg­net. 95% der­je­ni­gen, die unse­re Lite­ra­tur­zeit­schrift lesen, sind wahr­schein­lich Autor*innen. 80% von ihnen geht es viel­leicht wie mir – sie ver­fal­len in Selbst­mit­leid, wenn es mal nicht so klappt. Viel­leicht ken­nen 40% das Leben unter dem (von ande­ren fest­ge­schrie­be­nen) Exis­tenz­mi­ni­mum. Regel­mä­ßig Café-Lat­te-Trin­ken-Gehen, ein Yoga-Zwan­zi­ger­block, genü­gend Kar­ten für die Vien­na­le, ein Thea­ter-Abo, Besu­che im Gra­zer Lite­ra­tur­haus (das im Gegen­satz zu dem in Wien Ein­tritt ver­langt) sind da ein­fach nicht drin. Egal. Es geht auch so: Den Coro­na-Still­stand wei­ter­le­ben. Den Kaf­fee vor dem Com­pu­ter trin­ken (mit Bio-Zimt und Hafer­milch vom Mül­ler), Kino-Aben­de im Wohn­zim­mer einer Freun­din mit Net­flix-Abo, auf Lesun­gen frei­wil­lig ver­zich­ten, weil dort sowie­so nur Autor*innen im Publi­kum sit­zen (die dich alle fra­gen, wie es dir mit dem Schrei­ben geht und ob du auch zu ihrer Lesung kommst). Statt Yoga­stu­dio die ORF-TVthek auf­ru­fen und mit Phil­ipp Ich-bin-der-größte-Schmähmaster-aller-Zeiten-und-hab-die-effektivsten-Übungen-gegen-den-Schriftsteller*innen-Nacken-Jelinek tur­nen. Danach das Kli­ma­ti­cket nut­zen. Im Zug ist es warm, dort gibt es schnel­le­res W‑Lan als zu Hau­se. Aus­stei­gen irgend­wo, zum Bei­spiel in Köf­lach. Auf dem Maes­to­so-Rund­weg die Haseln begrü­ßen, Gehen statt Yoga, Nie­sen als Acht­sam­keits­übung. Mei­ne Hose hat Schmutz­rän­der, mei­ne Schu­he hin­ter­las­sen getrock­ne­ten Matsch. Mei­ne Brü­der und Schwä­ge­rin­nen rümp­fen die Nase, ihre Wohn­zim­mer sind mar­mor­ge­fliest, sie arbei­ten Voll­zeit, »was Sinn­vol­les«. Sie kur­beln die Wirt­schaft an, nur so geht´s uns allen gut. Sie kau­fen bei Zalan­do und Co: »Bestell zehn, schick acht zurück.« Sie tren­nen den Müll, kau­fen Fair­trade, geben ihren Hun­den vega­nes Fut­ter. Sie haben einen SUV mit Elek­tro­an­trieb. Im Som­mer befül­len sie ihre Swim­ming­pools mit Trink­was­ser, dem DHL-Mann win­ken sie in Bade­klei­dung zu: »Stell´s ein­fach am Zaun ab!« Wäh­rend­des­sen set­ze ich schwit­zend das nächs­te Roman­ma­nu­skript in den Sand. Wäh­rend­des­sen bret­tern die Lie­fer­wä­gen über die Auto­bah­nen. Wäh­rend­des­sen ster­ben Tau­sen­de in Krie­gen, die angeb­lich keine*r woll­te. Wäh­rend­des­sen ver­hun­gern Men­schen, weil es für sie nicht ein­mal eine Hand­voll Reis gibt. Wäh­rend­des­sen wer­den Küs­ten über­flu­tet, weil das Eis auf den Pol­kap­pen schmilzt. Wäh­rend­des­sen ver­nich­ten Walb­rän­de gan­ze Land­stri­che. Nein, stopp! – Nicht dar­über nach­den­ken. Lie­ber zur Net­flix-Freun­din gehen. Ihr ein &Radieschen mit­brin­gen. Davor die Tex­te raus­rei­ßen, in denen es um Femi­zi­de geht. Oder um Armuts­ge­fähr­de­te. Oder um Schwerst­trau­ma­ti­sier­te. Oder um … ver­dammt, alle Tex­te raus­rei­ßen. Das Cover ist auch schön, das kann sich die Freun­din an die Wand hän­gen. Auf Net­flix wäh­len wir eine Komö­die. Ein Tag ohne Lachen ist bekannt­lich ein ver­lo­re­ner Tag. 

Edi­to­ri­al zum The­ma Hül­le & Fülle/ &Radieschen-Zeitschrift für Lite­ra­tur, Feber 2024