Mai 2023
VATER VON SIEBEN
»Wer ist dieser Mann, der über deinem Schreibtisch hängt?«
Immer wieder richten Menschen die Frage an mich, und immer wieder löst meine Antwort Erstaunen aus, denn der Mann ist jemand, den ich nicht kenne.
Wenn es wenigstens ein Gemälde wäre, lese ich in den Augen derjenigen, die diese Frage stellen, ein Gemälde von einem berühmten Maler, wenn schon nicht von Klimt, dann wenigstens von irgendjemandem, den man in der Region kennt. Aber eine gewöhnliche Porträt-Fotografie, hinter einem billigen Glasrahmen aus dem Jahr 1944? Eine, die noch dazu schlecht retuschiert wurde? Man sieht es dem Bild an, dieses Vertuschenwollen dessen, was in den müden Augen des Mannes, den ich nur aus Erzählungen kenne, zu ahnen ist. Damals, als bereits drei seiner Söhne gefallen oder verschollen waren. Damals, als es mit seinem Geschäft bergab ging, weil niemand mehr da war, weder die helfenden Hände der Söhne, noch die Kunden selbst, die es sich leisten konnten, zu ihm zu kommen.
Es gibt ein Bild, das ist nur zwei oder drei Jahre jünger. Keine retuschierte Porträtfotografie, sondern eine kleine, wellige Privataufnahme, da sieht man ihn, den Urgroßvater, in seinem Süßwarenladen, mit eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen.
Dieses Sensible, dieses Depressive, das habt ihr von ihm, sagte die Großmutter. Dieses Nicht-weitermachen-Wollen, dieses Sich-nicht-und-nicht-darrappeln-Können.
Dass es nicht ihre Schuld sei, dass ihre Kinder und nun auch wir Enkelkinder so labil seien. Sie hätte es wie die Mutter gehalten, hätte immer versucht, das Positive zu sehen – immer! – in jeder noch so schweren Stunde. Früher war das so, sagte sie, als Frau hast du dir nicht leisten können, dich wochenlang hinzulegen da waren die Kinder, die mussten versorgt werden.
Sieben Geschwister sind sie gewesen, sagte die Großmutter. Die Lore, der Otto, der Josef, den alle den Pepsch nannten, der Hermann, der Ludwig, die Meri und als Letzte sie selbst, die Fips, eigentlich Philippa.
Davor gab es noch drei Kinder, aber die gehörten nicht dazu, die waren vor ihrer Zeit. Die drei haben ihren ersten Geburtstag nicht erlebt, das eine kam 1914 tot zur Welt, das zweite wurde keine Woche alt und das dritte (auch schon ein Josef, so steht es auf dem Grabstein) starb mit nur neun Monaten an der Grippe, zwei Wochen bevor der Urgroßvater aus dem Großen Krieg heimkehrte.
Wie die Urgroßmutter es danach überhaupt noch geschafft hat, frage ich mich. Ob da nicht bei jedem Kind die Angst. Und dann hast du es endlich geschafft, die Ältesten sind erwachsen, haben einen Beruf erlernt oder sind gerade dabei, und dann kommt schon weder der nächste Einberufungsbefehl. Der eine stirbt in Finnland, der andere in Frankreich, der dritte, der noch keine achtzehn ist, ist irgendwo in Russland verschollen.
Dass er sich hingelegt habe, der Urgroßvater, auf den großen grünen Diwan, und ganze drei Wochen nicht mehr aufgestanden sei, nachdem man ihm gesagt habe, dass nun auch der Pepsch für sein Vaterland gestorben sei.
Vaterland. Was das für ein Vaterland sei, wo man den Vätern die Kinder raubt.
(Auszug)
…
Gen ganzen Text kann man in der
Anthologie mit dem Titel “Sieben – Das lange Tal der Kurzgeschichten” lesen, die 2023 anlässlich des Mölltaler Geschichtenwettbewerbs im Verlag Anton Pustet erschienen und auf ca. 170 Seiten Geschichten von Autor*innen aus Österreich und Deutschland zum Thema “Sieben” vereint.
ISBN: 978–3‑7025–1086‑2
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