Mein Vater bewohnte eine mittelgroße Wohnung in einer großen Gemeindebauanlage am Ostrand der Stadt. Im Erdgeschoß des Gebäudes befanden sich außer einer kleinen Supermarktfiliale noch ein Blumengeschäft, ein Tabakladen, ein Kaffeehaus, eine Schnapsbar, eine Nachtbar sowie eine Polizeistation.
Im achten Stockwerk wohnte neben der Familie meines Vaters ein Ehepaar, welches die achtzig seit einiger Zeit überschritten hatte. Der Mann, der aufgrund seiner schweren Krankheit im Bette lag, wartete tagein, tagaus auf den Tod, während seine Frau ob der Tristesse ihrer Umgebung oft in Einsamkeit versank, weswegen die Frau meines Vaters sie manchmal zu einer Tasse Kaffee einlud.
Mein Vater, der außer mir, die ich nur an den Samstagen zu Besuch kam, noch zwei weitere Kinder hatte, beides Söhne, verließ die Wohnung an den Arbeitstagen lange vor dem Ende der Dunkelheit und kam erst spät wieder, dann nämlich, wenn der jüngere meiner Halbbrüder bereits im Bette lag und der ältere im Pyjama vor dem Fernseher saß und mit müden Augen Super Mario spielte.
Schon damals nahm der Fernseher einen erheblichen Teil des väterlichen Wohnzimmers ein. Ein Ungetüm mit riesigem, blank geputztem Bildschirm, dessen Diagonale in etwa der damaligen Körperlänge meines jüngeren Halbbruders entsprach, und dessen Hinterteil so dick war, dass es weit über die Kante der niedrigen Kommode, auf der er stand, hinausragte, was man jedoch nur sah, wenn man gleich beim Betreten des Wohnzimmers auf das Gerät blickte.
Die Sofaecke, die den Rest des Zimmers einnahm, war eine ockerfarbene Landschaft aus weichen Pölstern, auf welche die Frau meines Vaters bunte Häkeldecken gebreitet hatte, damit wir Kinder beim Verzehr unserer Knabbereien und Schokoriegel keine Flecken hinterließen.
Auf eben dieser ockerfarbenen Landschaft, die aus zwei im rechten Winkel aneinander geschobenen Sofas, einem Hocker und einem Sofasessel bestand, wurden auch die Gäste empfangen, wie etwa jene alte Dame von nebenan, für welche die Frau meines Vaters so viel Mitleid empfand.
An den Wochenenden jedoch war die Nachbarin nicht willkommen. Wenn ich zu Besuch kam, lag der Vater auf einer der Häkeldecken, während wir Kinder wie die Spatzen aufgereiht auf der anderen hockten, Soletti knabberten und gebannt auf den Bildschirm starrten.
Nach dem samstäglichen Videoschauen, wenn der Vater beschloss, dass ihm unser Geschnatter zu laut wurde und er seine Ruhe haben wollte, schickte er uns in das Zimmer meiner Halbbrüder. Der schmale Raum befand sich im hintersten Winkel der Wohnung. In ihm standen ein Stockbett, auf dessen Federbetten bunte Disneyfiguren tanzten, ein Schreibtisch, auf dem ein Becherchen mit gespitzten Buntstiften stand, ein schmales Regal mit Schulbüchern sowie ein Kleiderkasten, der seine besten Zeiten zwar hinter sich hatte, mit seinen farbenfrohen Stickern, die meine Halbbrüder aufgeklebt hatten, jedoch für eine gewisse Farbgebung sorgte.
Sobald wir das Zimmer betraten, holte der ältere meiner Halbbrüder für den jüngeren die Matchboxautos vom Kasten, während ich selbst die große Schreibmaschine aus dem Hartschalenkoffer zog, welche die Frau meines Vaters extra für mich aufgetrieben hatte. Ich hatte mir fest in den Kopf gesetzt, dereinst eine berühmte Schriftstellerin zu werden, weswegen die Frau meines Vaters in der Schreibmaschine eine gute Gelegenheit gesehen hatte, mich in die väterliche Wohnung zu locken, denn mit meinen zwölf Jahren war ich wankelmütig und konnte meinem Vater, der mir in den Augen meiner Mutter nichts zu befehlen hatte, jederzeit meine Aufmerksamkeit entziehen.
Der ältere meiner Halbbruder spielte meinen Sekretär. Sobald meine Finger zu schmerzen begannen, musste er sich an die Schreibmaschine setzen und die Worte, die ich ihm diktierte, tippen, wobei er mir stets zu langsam war, weswegen ich mit meinen wunden Fingerkuppen ungeduldig gegen die Tischplatte trommelte, was wiederum die gespitzten Buntstifte im Becherchen noch mehr zum Erzittern brachte.
Es ist stets das Kleine, Gewöhnliche, das mir heute einfällt, wenn ich an die Samstage im Hause meines Vaters zurückdenke. Nicht die vergnügten Stunden beim Geburtstagsfeste, nicht die Spaziergänge in den Prater hinein, wenn meine Halbbrüder und ich ausnahmsweise einen Schein bekommen hatten, um uns von den fliegenden Sesseln durch die Luft wirbeln zu lassen. Nein, es ist das Alltägliche, das Wiederkehrende, das sich in meine Erinnerungsbilder schiebt; eben jene monotonen Abläufe, aus denen heraus ich das Wesen jener Erwachsenen, die meine Kindheit prägten, zu erkennen glaube.
Originaltext: »Der Nachsommer« von Adalbert Stifter (Roman)
Das Projekt “Homeage” wurde von Katharina J. Ferner ins Leben gerufen. Schriftsteller:innen aus ganz Österreich verfassen Texte im Stil jener Schriftsteller:innen, die man auf den Straßenschildern Salzburgs findet.
Im Video liest Katharina J. Jener meinen Text – mehr gibt es auf YouTube zu sehen (einfach die Playlist durchgehen).