Stre­cke: Graz Straß­gang – Niklas­dorf
S‑Bahnen: S7, S1, S8
Dau­er: 1h 23 min
Bahn­lek­tü­re: Lis­te der geblie­be­nen Din­ge von Kat­rin Schu­ma­cher

Niklas­dorf, das ist Brigl & Berg­meis­ter. Der Fabriks­schlot stößt wei­ße Wol­ken in den Him­mel, ent­lang der Stra­ße Wohn­bau­ten aus den 1960ern. Arbei­ter­vier­tel, ein­ge­pfercht zwi­schen grün bewal­de­ten Ber­gen. Trost­los das ers­te Wort, das ihr ein­fällt. Dass sie am liebs­ten gleich wie­der zurück in die Bahn, denkt sie. Aber nein – jetzt ist sie da, jetzt schaut sie sich das an.
Ein süßer Geruch in der Luft. Papier­fa­brik, rät sie – das riecht man, ohne dass man den Namen ken­nen muss. Ein biss­chen wie Frant­schach, nur weni­ger kon­zen­triert.
Der Weg hin­un­ter zur Mur muss erst gefun­den wer­den, das Kino am Weg wie ein Fet­zen aus einer ande­ren Zeit. Eine Erin­ne­rung an frü­her poppt auf, es ist nicht ihre.


Die Brü­cke hin­über nach … den Dorf­na­men ver­gisst sie in dem Moment, in dem sie ihn liest. Der Mur­rad­weg führt nicht am Fluss ent­lang, nichts führt am Fluss ent­lang. Wohin also? Dem gel­ben Schild fol­gen: Mühl­weg. Es geht jetzt steil hin­auf, direkt in den Wald hin­ein. Knis­tern­de Strom­lei­tun­gen über ihrem Kopf, das Briz­zeln macht ihr Angst (sie stellt sich vor, dass da etwas her­un­ter­schnalzt), sie beschleu­nigt ihren Schritt, unter den Dräh­ten vor­bei. Eine Bank am Ende einer Wie­se, ver­wit­tert. Wer sich da hin­set­zen soll, denkt sie, direkt unter dem Briz­zeln und Sum­men in den Dräh­ten.
Sie erreicht eine Forst­stra­ße. Lässt den mar­kier­ten Wan­der­weg links lie­gen. Forst­s­stra­ßen sind gut, Forst­stra­ßen füh­ren durch den Forst (den forest, denkt sie und goo­gelt: m. sil­va, nemus, ursprüng­lich aber nicht jeder wald, son­dern bann­wald, herrn­wald, fron­wald, im gegen­satz zur mark, dem allen genos­sen gemei­nen wald.*)

*https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=H01602 

Die Jacke um den Bauch gebun­den, trotz­dem schwitzt sie, und das Anfang Febru­ar, am Ran­de des Aich­felds, am Ran­de des Kind­heits­ge­bie­tes, wo es frü­her immer nach Schnee gero­chen hat. Nadel­wald­duft. Sie sieht in die Zwei­ge der Bäu­me und atmet tief. Der Geruch allein war es wert, denkt sie.
Mit­ten im Nir­gend­wo zieht sie aber­mals das alte Smart­phone aus der Tasche. Die Forst­stra­ße führt ins Nichts, trotz­dem geht sie noch ein wenig wei­ter. Und dann dreht sie irgend­wann um. Das macht sie jetzt manch­mal so. Mit der Bahn rum­fah­ren und irgend­ei­ne Forst­stra­ße ent­lang­ge­hen, bis zu irgend­ei­nem Punkt, nur um dann wie­der umzu­keh­ren. Ohne das Kli­ma­ti­cket war sie die bes­se­re Kli­ma­schüt­ze­rin, nichts hält den Fuß­ab­druck klei­ner als das Zuhau­se­blei­ben.
Aber gut, sie hilft jetzt den Kran­ken­kas­sen beim Spa­ren. Viel­leicht soll­te man die Gel­der umschich­ten, denkt sie, Kli­ma­ti­cket als Gesun­den­vor­sor­ge, damit alle mal raus kom­men aus die­sem Fein­staub­mief. Raus aus den beque­men Ses­seln.

Am Rück­weg ein Stein­schlag-Warn­schild. Das erin­nert sie an … Mein Gott, 33 Jah­re ist das jetzt her.
Sie waren zu viert – die Nach­hut einer gro­ßen Grup­pe. Hat­ten ein paar Stei­ne zusam­men­ge­sam­melt (wo hat­ten sie die her­ge­habt?) und auf dem Wald­weg zu einer Bar­rie­re auf­ge­baut, direkt neben dem Warn­schild. Schnell, schnell, nicht zu ordent­lich, wirf sie hin, damit es echt aus­sieht. Fer­tig wer­den, bevor die Pief­ke kom­men. So sag­ten sie es damals: “Die blö­den Pief­ke mit ihren Schiste­cken”.
Jetzt fragt sie sich, ob es wirk­lich Schiste­cken waren, die die Wan­de­rer dabei­hat­ten. (Die Wan­de­rer, die ihnen stein­alt vor­ka­men, dabei waren sie wahr­schein­lich nicht älter als sie heu­te.) Ob die Schiste­cken damals schon ultra­leich­te Wan­der­ste­cken waren? Dass es sowas gibt, weiß sie auch erst jetzt, da ihr Knie nicht mehr so mit­macht. Nor­dic-Wal­king-Stö­cke waren es jeden­falls kei­ne, Nor­dic-Wal­king, das kam erst Jah­re spä­ter.
“Mensch, Wat is denn da pas­siert?“
Die Fra­ge des Man­nes – so stellt sie sich sei­nen Satz heu­te vor, wie man sich 1991 eben einen “Pief­ke” vor­ge­stellt hat.
Die Damen hoben die Schiste­cken, die viel­leicht kei­ne waren, ver­zo­gen den Mund, blick­ten den Hang hin­auf. Ein Stein­schlag? Gera­de jetzt, in dem Moment?

Sie niest drei Mal und schnäuzt die Erin­ne­rung weg. Jetzt fängt das wie­der an, sie soll­te aus dem Wald her­aus. Aus der Natur her­aus. Dabei hat sie doch extra eine Tablet­te… Und wie­so über­haupt, Anfang Feber, mit­ten im Nadel­wald, wo soll es da eine blü­hen­de Hasel geben?
Unten ange­kom­men sind die zwei Taschen­tü­cher längst auf­ge­weicht. Sie läuft in den nächs­ten Super­markt (den sie lan­ge sucht). Taschen­tuch-Nach­schub, eine Fla­sche Mine­ral­was­ser, das Raus­ge­schnäuz­te nach­fül­len.
Die Fuß­soh­len ein ein­zi­ges Bren­nen, und das nach gera­de mal zwei Stun­den Geh­zeit.
Im Zug wie­der die Lese­bril­le raus­ho­len. Ohne Bril­le geht gar nichts mehr, die muss jetzt immer mit. Sie ver­senkt sich in die Zei­len. Zwi­schen die poe­ti­schen Sät­ze drängt sich der Dia­lekt eines Fahr­gasts, mit pene­tran­ter Laut­stär­ke erklärt er, dass das mit den Fein­staub­wer­ten in den Städ­ten heu­te viel bes­ser sei als damals.
Sie denkt, dass er klingt wie die­ser ulki­ge Schau­spie­ler. Sie denkt, dass er wohl gleich alt ist wie sie. Dass er aus aus Graz kommt oder aus der Nähe, man­che haben die­sen star­ken Akzent.
Sie denkt, dass er wohl nicht in Strass­gang wohnt, ein­ge­pfercht zwi­schen Auto­bahn, Kärnt­ner Stra­ße, Haus­brand, sonst wüss­te er, dass gar nichts bes­ser gewor­den ist. Nicht mal die Wäsche kann man mehr drau­ßen las­sen, und wenn du lüf­test, stinkt es nach­her mehr als davor.

Am Bahn­hof in Graz noch schnell Wasch­mit­tel kau­fen. Dann mit dem Buch ins War­te­häus­chen (Schützt vor Pol­len­flug.)
Zu Hau­se dann schaut sie in dem alten Buch nach, das sie unlängst in einer ehe­ma­li­gen Tele­fon­zel­le gefun­den hat. Zu Niklas­dorf fin­det sie nur einen Halb­satz:

Murb­wärts ste­hen eine neue, gro­ße Papier­fa­brik in Niklas­dorf, Mus­ter eines aut­ar­ken Betriebs (Papier- und Zel­lu­lo­se­fa­brik, Sul­fit­prit­fa­brik) und das Lauf­kraft­werk Dio­ny­sen (70 Mill. kWh).

Her­mann Gsteu: Län­der­kun­de Öster­reichs, Tyro­lia 1971

Lek­tü­re für die Bahn­fahrt:
Titel: Lis­te der geblie­be­nen Din­ge
Autor*in: Kat­rin Schu­ma­cher
Ver­lag: Ley­kam
Erschei­nungs­jahr: 2024
Eine atmo­sphä­ri­sche, poe­ti­sche Erzäh­lung, eine moder­ne Lie­bes­ge­schich­te mit Mär­chen und Lis­ten.
Mei­ne Rezen­si­on gibt es dem­nächst – in &Radieschen, Zeit­schrift für Lite­ra­tur (und natür­lich auf mei­nem Buch­blog)