#1

In der Lan­des­bi­blio­thek fin­den kei­ne Lesun­gen mehr statt.
Das Ley­kam-Jubi­lä­um wur­de abge­sagt.
Das Thea­ter bleibt geschlos­sen.
Das Kin­der- und Jugend­li­te­ra­tur­fes­ti­val in Wien: bis auf wei­te­res ver­scho­ben.
Der Jour fixe bei Zsol­nay: fin­det nicht statt.
Man­che mun­keln, dass bald alles zusper­ren wird.

Ich rufe mei­ne Mut­ter an und tei­le ihr mit, dass mei­ne geplan­te Wien-Rei­se kei­nen Sinn mehr macht.

#2

Fami­li­en­mit­glie­der rufen an und bit­ten, in den nächs­ten Wochen nur Tele­fon­kon­takt zu pfle­gen.
Ande­re Fami­li­en­mit­glie­der sit­zen in Viet­nam.
Wie­der ande­re schi­cken Coro­na-Scher­ze.

Ich rufe mei­ne Mut­ter an und bit­te sie, das Geburts­tags­tref­fen zu ver­schie­ben, das Rei­sen müh­sam wer­den könn­ten. Auch bil­de mir jetzt fest ein, dass ich als Ehe­frau eines Leh­rers mei­nen Eltern bes­ser nicht sehen soll­te.

Ansons­ten läuft mein All­tag wie in den letz­ten Mona­ten.
Ich schrei­be an den letz­ten Kapi­teln, am Abend set­ze ich mich auf mei­ne Yoga­mat­te.

Nur die ORF TV-thek sitzt jetzt jeden Abend mit uns bei Tisch.

#3

Im Radio spricht man von Aus­gangs­be­schrän­kun­gen, die ges­tern noch demen­tiert wur­den.
Ich bit­te S., noch an die­sem Nach­mit­tag zum Inter­view zu kom­men, mor­gen könn­te es teu­er wer­den.
Mein Mann beglei­tet mich auf mei­nen Spa­zier­gang, das tut er nicht immer.
Ich schlu­cke mei­ne All­er­gie­ta­blet­te.

Am Rück­weg holen wir S. von der Buss­hal­te­stel­le ab, in mei­nem Schreib­zim­mer ste­cke ich das Mikro­phon in den Lap­top. Mein Kol­le­ge hät­te das bes­se­re Equip­ment als ich, aber es bleibt uns kei­ne Zeit mehr.

Wir öff­nen eine Fla­sche Rio­ja, die schon seit Wochen auf eine gute Gele­gen­heit war­tet.

S. tele­fo­niert mit ihrem Vater. Da ihre Rück­rei­se nach Ser­bi­en gecan­cel­led wur­de, star­ten wir einen Auf­ruf in den sozia­len Medi­en: Wer fährt mor­gen von Graz nach Bel­grad?
Das Inter­view fin­det irgend­wo dazwi­schen statt.

Im Inter­net fin­de ich ein Bus­un­ter­neh­men, das am nächs­ten Tag eine Fahrt von Wien nach Bel­grad anbie­tet (Zitat: “Wir fah­ren auf jeden Fall ab, wis­sen aber nicht, wie weit wir kom­men.”)
Ich buche für S. ein ÖBB Ticket nach Wien und neh­me sie zum Abschied in den Arm, obwohl man das gar nicht mehr tun soll­te.


Hin­weis: Das Inter­view mit der Bel­gra­der Autorin Sofi­ja Živ­ko­vićs wur­de am Di, 31. März um 18:00. auf Radio Hel­sin­ki aus­ge­strahlt.

#4

Ich stel­le mein Han­dy auf laut­los, es mir zu quen­ge­lig.

Die letz­ten Sei­ten mei­nes Romans ver­tröd­le ich, ich schaue zu vie­le Pres­se­kon­fe­ren­zen.
Die Ein­reich­frist für den Kin­der- und Jugend­li­te­ra­tur­preis des Lan­des Stei­er­mark rückt näher, wenn ich so wei­te­re, wer­de ich es nich schaf­fen, fer­tig zu wer­den.

Drau­ßen bricht der Früh­ling aus, die Bir­ke kotzt Samen.
Im Radio höre ich, dass sie ums Über­le­ben kämpft.
Irgend­wie tut sie mir leid. In 25 Jah­ren beginnt man, sei­nen Feind zu lie­ben.

Am Abend tau­sche ich mich mit einer Freun­din über bevor­ste­hen­de finan­zi­el­le Ver­lus­te aus. Wir neh­men es gelas­sen, unse­re Män­ner haben bei­de siche­re Jobs. Trotz­dem wird es uns schwer­fal­len – wir sind gern unab­hän­gig.

# 5

Die Bir­ke
kann von mir aus doch kre­pie­ren.

# 6

Heu­te war ich bei einer Lesung in Wien.
Ich muss­te dafür nicht mal
das Haus ver­las­sen.


Nicht ein­mal aus mei­ner Bade­wan­ne
muss­te ich stei­gen.

# 7

Im ORF: 
Rent­ner son­nen sich
auf Park­bän­ken
und recht­fer­ti­gen sich.

Auf Face­book kur­sie­ren Wut-Vide­os.
Men­schen, die sie ihr Haus ver­las­sen.
wer­den des zukünf­ti­gen Mor­des
ange­klagt.


Indes ver­sam­meln sich unter uns
die Nach­barn 
zum Gril­len.
Ich schlie­ße mei­ne Bal­kon­tür
ich mag den Geruch 
ihres Grill­an­zün­ders nicht
(Ich moch­te auch ihre Rake­ten nicht
zu Sil­ves­ter, um Mit­ter­nacht)


Unse­re Nach­barn 
ver­sam­meln sich zu oft
Unse­re Nacharn grö­len
unse­re Nach­barn
hören schlech­te Musik
Jetzt böte sich die Gele­gen­heit: 
Ich könn­te mei­ne Nach­barn 
ver­pet­zen

# 8

Den Vögeln ist unse­re Kri­se egal.
In den Bäu­men zwit­schert es,
in mei­nem Lap­top ent­steht ein neu­es Buch.

Ich will kei­ne Lebens­ret­te­rin sein.
Ich will die sein, die frei­wil­lig zu Hau­se bleibt, 
weil sie lie­ber liest als tanzt.
Weil sie lie­ber schreibt als fei­ert,
weil sie anders ist.
Weil sie spinnt.

Ich will die Aus­nah­me blei­ben,
über die ande­re den Kopf schüt­teln.

Der Unter­schied
exis­tiert nur im Kopf

und ist doch ein gro­ßer.

# 9

Mei­ne Mut­ter fei­ert ihren Geburts­tag allein.
Die Tul­pen auf ihrem Tisch,
so erzählt sie mir am Tele­fon,
sind vom Super­markt.
Man hat sie ihr am Mor­gen
vor­bei­ge­bracht,
eben­so wie die
zwei Scho­ko­küch­lein
aus der Bäcke­rei.

S. sagt,
sie hät­te immer schon gern
im Juni gefei­ert.
Oder im Juli.
Die­ses Jahr wird sie es end­lich tun.

#10

Wir klat­schen, 
bis unse­re Hän­de 
wund sind,
jeden Tag um 18:00,

Wenn der Held*innendienst endet,
um 19:00,
haben wir uns längst wie­der 
ande­ren Din­gen gewid­met. 

Der gro­ße Boss
wird ein biss­chen jam­mern 
und viel­leicht wird er was 
vom gro­ßen Kuchen abbe­kom­men
(kos­te es, was es wol­le)
Die Held*innen aber wer­den die Rega­le 
wie­der allein ein­räu­men.

Die Held*innen der Kri­se sind neon­far­ben.
Die Held*innen des All­tags : unsicht­bar.

#11


Das Erd­be­ben lässt die Kroa­ti­en­lieb­ha­ber kalt,
statt um die Zagre­ber Innen­stadt zu trau­ern,
tei­len sie Fotos von Bär­lauch­sträu­ßen
und Zoom-Sceen­shots ihrer Enkel­kin­der.

Im Fern­se­hen fin­det indes Schul­fern­se­hen statt,
Sonn­tag­abend, am zwei­ten Kanal.
Wascht euch brav die Hän­de, sonst …

Die Regie­rung dankt allen
und macht aus uns ein Team –
Team Öster­reich:
Coro­na gegen alle
und alle (-5%) gegen Coro­na.

#12

Durch Wien, heißt es, fährt jetzt ein Wagen, 
der die Men­schen gra­tis mit Fend­rich beschallt.
Mei­nem Mann fän­de Mozart bes­ser.

Der Nach­bar gegen­über singt pünkt­lich um sechs:
Love is a bur­ning thing.
Mein Mann zeigt ihm, wie das zu klin­gen hat 
und dreht John­ny Cash auf.

Ich stop­fe mir Sili­kon in die Ohren
und tue so, als wäre mei­ne Arbeit wich­tig

#13

In Ungarn 
wer­den die letz­ten Res­te der Demo­kra­tie zu Gra­be getra­gen.
Vor ein paar Wochen wäre das Schlag­zei­le Num­mer eins gewe­sen.

#14

aso­zi­al

ich will nicht klat­schen
ich will euren kin­dern nicht per video­chat zuwin­ken
ich will mich nicht in eurer face­book­grup­pe aus­tau­schen
ich will kein foto von mir tei­len und zwan­zig ande­re mar­kie­ren
ich will nicht ver­ra­ten, wie ich mich fit hal­te
ich will mich nicht mit der gitar­re auf den bal­kon stel­len
ich will mir eure bär­lauch­fo­tos nicht anse­hen
ich will auch eure sms nicht lesen
ich brau­che nichts,
mir geht’s gut.
mir fehlt nichts …
eure wan­gen­küs­se nicht
eure umar­mun­gen nicht
eure kin­der nicht
eure hun­de nicht
eure autos nicht
ihr nicht.

die welt nicht.

#15

in mei­nem manu­skript:

ein mann,
der sein Haus nie ver­lässt –
nicht mal zum ein­kau­fen.

2019 war das noch was außer­ge­wöhn­li­ches.

#16

In unse­rem Nach­bar­land rich­tet es sich der Dik­ta­tor hübsch ein.
Knob­lauch und Vit­amin C, heißt es in Brüs­sel,
wer­den lei­der nicht hel­fen.

V. ruft an–
er wur­de erfolg­reich vom Asi­en-Urlaub rück­ge­holt.

#17

Am Weg zum Müll sitzt ein Vogel
zwi­schen Glas und Beton
und fin­det nicht mehr zurück ins Freie.

#18

Auf Face­book nähen wir Mas­ken in Akkord­ar­beit
und unter­rich­ten die Kin­der von 8 bis 2.
Wir backen Brot und pos­ten
Teig­wa­ren in Heim­ar­beit
Danach gibt’s Online Yoga.
Lan­ge­wei­le ziemt sich nicht.
selbst­läg­ri­ge Frau­en wer­den bestraft.

*

(18:00)

wir ver­sam­meln uns an den Fens­tern und
win­ken uns mit ver­hüll­ten Gesich­tern zu.
Mein Mann ist jetzt Held auf Abruf.
Wenn man ihn an die Front holt, wer­de ich
auf den Bal­kon tre­ten und mit
einem wei­ßen Taschen­tuch win­ken.
Ich wer­de eine Schlei­fe im Haar tra­gen:
Nous som­mes en guer­re.

In mei­nem Kopf wer­den die Bil­der schwarz-weiß,
der Ton geht ver­lo­ren.

#19

mor­gens:

Ich sehe in der Blue­tooth Lis­te nach.
Hal­lo, Nach­bar!
Bist du zu Hau­se?
Oder ist nur dein Han­dy da?

*

mit­tags:

Im Radio wird die neue Über­wa­chungs-App erklärt.
Unse­re Jus­tiz­mi­nis­te­rin fin­det das span­nend.

#20

Eine Bekann­te gesteht:
die Rat­lo­sig­keit der Poli­ti­ker
mache ihr Angst.
Ich sage,
ich wür­de mir ein biss­chen mehr Rat­lo­sig­keit
wün­schen.
Ein biss­chen mehr
von dem guten alten
Ich weiß,
dass ich nichts weiß.
Statt­des­sen heißt es jetzt in Tirol:
Ich weiß nicht
dass ich jemals
was wuss­te.

#21

Heu­te kam ein Päck­chen vom Ver­lag:
Schob sich von rechts in mei­nen Tür­rah­men.

Der Post­bo­te
– eine gan­ze Arm­län­ge ent­fernt an der Wand –
mur­mel­te durch ein schwar­zes Tuch
und floh nach links.

#22

auf face­book
wird wie­der gestrit­ten
die toten
wer­den zur mas­se
die frei­heit
des ein­zel­nen
zum mord­in­stru­ment.

#23

Jetzt bin ich seit fast vier Mona­ten kaum noch außer Haus gegan­gen. Oder sagen wir so: In letz­ter Zeit geh ich sogar brav. Jeden Tag eine Run­de, wenn nicht durch den Wald, dann ist es der übli­che Weg: an Magno­li­en­bäu­men, polier­ten SUVs und Zäu­nen vor­bei (white picket fen­ces und so), irgend­wo zwi­schen Straß­gan­ger Kir­che und Schloss St Mar­tin müs­sen Sie sich das als Grazer*in vor­stel­len.
Unse­re täg­li­che Aus­lauf­run­de beginnt zu ner­ven. So muss sich Bel­lo füh­len, den­ke ich, immer an der glei­chen Hun­de­schei­ße vor­bei.
Am Gar­ten­zaun Num­mer sound­so ste­hen Men­schen bei Musik und Bier und Geläch­ter. Sie tun das jeden Tag, ohne den befoh­le­nen Meter Abstand. Gegen­über schraubt einer Som­mer­rei­fen auf PKWs, er hat in sei­ner Gara­ge zwei Hebe­büh­nen.
Erin­nert mich irgend­wie an frü­her. Kind­heit und so.
In den Bäu­men hocken die Vögel und zwit­schern um die Wet­te, am Weg­rand son­nen sich Kat­zen und füh­ren ihre dicken Bäu­che spa­zie­ren.
In der Innen­stadt, so heißt es in einer Schlag­zei­le, feh­len die Tau­ben, in Grie­chen­land fal­len die Zug­vö­gel vom Him­mel.
Dass es jetzt in Krum­pen­dorf schön wäre, deken wir, die wir von dor geflo­hen sind.
Wel­che Pha­se habe ich erreicht? Rück­bli­ckend kann ich vier erken­nen.
Pha­se eins: Berührt mich nicht, ich mach es wie schon die Mona­te zuvor und ver­las­se die Woh­nung nur, um ein­zu­kau­fen und mir die Füße zu ver­tre­ten.
Pha­se zwei: Statt wie­der ins Leben zurück­zu­keh­ren und mir die War­te­zeit in der Büche­rei und in der Innen­stadt zu ver­trei­ben, besu­che ich diver­se Online-Lesun­gen auf Face­book, schaue alte Kri­mis auf You­Tube und zie­he mir täg­lich die Pres­se­stun­de der ORF TV-thek rein. Lade mir min­des­tens zehn Bücher run­ter, von denen ich kei­nes zu Ende lese. Fra­ge mich, wie ande­re es schaf­fen, sich zu kon­zen­trie­ren.
Pha­se 3: Akti­on gegen Lan­ge­wei­le. Mein Schreib­zim­mer mutiert zum Bas­tel- und Auf­nah­me­stu­dio.
Pha­se 4: Kann kei­ne Online-Lesun­gen mehr sehen. Auch kei­ne Kri­mis. Und schon gar kei­ne Pres­se­stun­den. Selbst die Todes­zah­len berüh­ren nicht mehr. Die Men­schen ner­ven mit ihren Jog­ging­ho­sen und Web­cams, mir wird das Gan­ze zu pri­vat, ich zie­he mich zurück, lese Bücher, die ich schon ein­mal gele­sen habe, ver­sin­ke in eine Zeit, in der noch alles gut war.
Jemand wählt eine Tele­fon­num­mer und erfährt, dass der Ange­ru­fe­ne hier nicht mehr zu Hau­se sei. So alt bin ich also schon, dass das, was frü­her ganz nor­mal war, uto­pisch anmu­tet.
Mein Mann ist es, der mich aus dem Lehn­stuhl holt und zum Gas­si gehen aus­führt.
Ich wer­fe mir mei­ne All­er­gie­ta­blet­ten rein und zäh­le die Poli­zei­wä­gen, die an uns vor­über­fah­ren.
Mei­ne Mut­ter spricht von der Tro­cken­heit. Dass man Wald­brän­de befürch­te. Dass Graz betrof­fen sei, mehr noch als Wien.
Die Apo­ka­lyp­se kommt, so oder so, und irgend­wann wer­den wir nicht mehr davon­lau­fen kön­nen, und auch das Ein­sper­ren wird uns dann nichts brin­gen, dann näm­lich, wenn der Regen fehlt, wenn die Schnee­schmel­ze fehlt, wenn die Win­ter zu warm sind und die Natur vor dem Frost erwacht.
Jetzt also.
Die Apo­ka­lyp­se hat längst begon­nen, auch hier.
Wir sind ver­wöhnt.
Wir sind unsterb­lich, wir lif­ten uns die Fal­ten weg, wir sind die Meis­ter der Ver­drän­gung. Alles, was wir nicht sehen müs­sen, sehen wir nicht.
Nur Coro­na, das sehen wir.
Tag für Tag für Tag für Tag.

#24

Ich gehe auf die Sei­te der Onlei­he und lade mir sie­ben Bücher run­ter. 
Auf unse­rem Putz­bal­kon steht mein Lese­stuhl.
Auf unse­rem Putz­bal­kon scheint die Son­ne, jeden Tag von 3 bis 6.
Put­zen soll­te ich auch. Aber Put­zen kann ich mor­gen auch noch. 

#25

K. sagt, dass L. behaup­tet hat, man hät­te das Virus künst­lich erzeugt – weil es zu vie­le Men­schen gibt.
Ich fra­ge mich, wie das mit den Chem­trails ist. Haben die ver­sagt? Gibt es des­we­gen kei­ne wei­ßen Strei­fen mehr am Him­mel? Weil man jetzt das Virus hat?
Ich will, dass K. bei L. nach­fragt.
Über­haupt habe ich ziem­lich vie­le Fra­gen an L.
Seit­dem mir die Pres­se­stun­de kei­nen Kit­zel mehr beschert, brau­che ich L. für mein täg­li­ches Amu­se­ment.
K. aber macht mir einen Strich durch die Rech­nung, er will sich nicht mehr mit L. aus­ein­an­der­set­zen, meint er, such dir dei­ne Ablen­kung anders­wo!

#26

Wenn die Hand­schrift des
Ver­si­che­rungs­ver­tre­ters
zu Trä­nen rührt …

Viel­leicht lässt Coro­na mehr Nähe zu,
als wir gewöhnt sind.

#27

Tump
schlägt eine Imp­fung mit Des­in­fek­ti­ons­mit­teln vor.
Ich muss an M. den­ken, die auf­grund ihrer Krebs­er­kran­kung 
alles zu Hau­se hät­te, um sofort zum Selbst­ver­such zu schrei­ten – 
und fra­ge mich, wie vie­le Amerikaner*innen 
heu­te Abend tot in ihren Bade­zim­mern 
lie­gen wer­den. 

#28

Freun­de schi­cken mir Links zu prä­mier­ten Fil­men, die man jetzt gra­tis strea­men kann. 
Via Face­book wer­de ich auf min­des­tens 5 ver­schie­de­ne Online­le­sun­gen pro Tag hin­ge­wie­sen, in den Lap­tops der ande­ren ent­ste­hen neue Roma­ne, mei­ne Ver­wand­ten nüt­zen die Gele­gen­heit und sor­tie­ren die Bücher in ihren Buch­re­ga­len und züch­ten Toma­ten.
Mei­ne Pflan­zen hin­ge­gen kre­pie­ren. 
Unse­re Woh­nung ist so chao­tisch wie nie zuvor, unter unse­rem Bett ste­cken die Woll­mäu­se ihre Näs­chen her­vor, wenn ich das Zim­mer betre­te, flit­zen sie von einer Ecke zur ande­ren. 
Wir schau­en jetzt jeden Abend eine Kri­mi­se­rie auf You­tube, die uns in Ö1 emp­foh­len wur­de – immer­hin, da kann man sich ein­re­den, dass sie so dumm gar nicht ist.
Tags­über sit­ze ich am Lap­top und star­re trä­ge auf den Bild­schirm. 
Ver­su­che, ein biss­chen pro­duk­tiv zu sein – am Ende des Tages ist ein­fach nur ein wei­te­rer Tag ver­gan­gen.
Seit­dem die Bau­märk­te wie­der geöff­net haben, wird flei­ßig gebohrt, gestemmt und gehäm­mert. Wir timen unse­re Gas­si­geh­run­de nach der Bohr­ma­schi­ne der Nach­ba­rin – die hat jetzt sogar den Schim­mel vom Küchen­fens­ter weg­ge­wischt. Über­haupt schaut die Nach­ba­rin ein biss­chen fröh­li­cher aus als sonst, scheint ihr gut zu gehen daheim. 
Auf unse­rem Weg zu den Müll­kü­beln spie­len wir hei­te­res Beru­fe­ra­ten. Danach gehen wir die übli­che Run­de, an der Kir­che vor­bei zum Schwimm­bad, den Bach ent­lang, an den Fel­dern vor­bei. Die Anrai­ner über­ho­len uns mit ihren auf Hoch­glanz polier­ten SUVs, alle hal­ben Minu­ten sprin­gen wir zur Sei­te, in Rich­tung Zaun oder Zecken­he­cke. Eine Frau beschwert sich, wir sind ihren Zaun­lat­ten (und damit auch ihr) zu nah gekom­men.
Ich zei­ge mei­nem Mann den Flie­der und die ver­blüh­ten Magno­li­en, sage: So hat’s in mei­ner Kind­heit am Mut­ter­tag aus­ge­se­hen.
Ich kom­me mit den All­er­gie­ta­blet­ten nicht mehr nach und wei­ne.
Das Elek­tro­au­to, das uns zur Abwechs­lung über­holt, kommt mir vor wie der ver­zwei­fel­te Ver­such eines klei­nen Kin­des. 
Ich habe kei­ne Hoff­nung mehr. Habe zu vie­le geleas­te Gelän­de­wä­gen vor her­un­ter­ge­kom­me­nen Wohn­haus­an­la­gen gese­hen. Habe mir zu oft erzäh­len las­sen, wie bil­lig die Rei­se nach Asi­en gewe­sen sei (All inclu­si­ve, 14 Tage Tro­pen­wet­ter und Früch­te, das glaubst du nicht!) Habe zu oft erlebt, wie ande­re ihr Sofa alle paar Jah­re gegen ein neu­es getauscht haben.
Habe zu oft gese­hen, dass ande­re den Kopf dar­über schüt­teln, wenn die Schu­he aus­ge­tre­ten, die Wes­ten geflickt, das Bad nicht reno­viert, die Tas­ta­tur des Lap­tops lücken­haft ist und die Urlau­be sel­ten und immer in Euro­pa statt­fin­den.
Loser. Das sind wir in ihren Augen.
Wir bie­gen in unse­re Wohn­gas­se ein und ersin­nen Maß­nah­men zum Schutz der Umwelt. 
Mein Mann schlägt vor: Geschwin­dig­keits­be­schrän­kung auf Auto­bah­nen.
Ich sage: Car­sha­ring, weg vom Besitz­den­ken. Aus­bau des öffent­li­chen Ver­kehrs. 3x gra­tis was lie­fern las­sen dür­fen, wenn man nach­wei­sen kann, dass man kein Auto hat.
PS-Beschrän­kung in der Auto­in­dus­trie, sagt mein Mann, der selbst pen­deln muss.
Ein­schrän­kung im pri­va­ten Flug­ver­kehr, sage ich, Fern­rei­sen nur alle 5 Jah­re erlaubt (Aus­nah­me: Besuch von engen Fami­li­en­mit­glie­dern.)
Unser Maß­nah­men­pa­ket kommt uns zu harm­los vor. 


Mein Coro­na­ta­ge­buch ent­stand in den Tagen vom 10. März bis zum 26. April 2020.