Aich­feld Blues

„Juden­burg?“, wur­de ich von einem Bekann­ten gefragt, sei­ne Aug­äp­fel tra­ten her­vor, spran­gen über die The­ke (er ist Bar­kee­per im Café Anno). „Was willst du in Juden­burg??“

T. kommt aus Knit­tel­feld. Ist einer jener Men­schen, die am Ende ihrer Kind­heit geflüch­tet sind. Hals über Kopf nach Wien, nur weg von hier.

In Wien lernt man sol­che Leu­te ken­nen. Ihre Groß­el­tern haben im Koh­le­berg­werk gear­bei­tet, die Eltern lei­den unter Mor­bus Crohn oder an der Alko­hol­krank­heit. Eine Tiro­ler Freun­din erzählt mir von ihrem „Stei­rer­buam“, der heu­te in Hall wohnt. „Über­all nur nicht in Juden­burg“, sagt er.

Das Aich­feld kämpft um sei­ne jun­gen Leu­te. Fohns­dorf – ehe­mals das größ­te Dorf Öster­reichs – wirbt mit einer neu­en Ther­me. Die Besu­cher­zah­len sind nicht so groß­ar­tig wie erhofft – wer kommt schon nach Fohns­dorf? Wer in die Ber­ge will, über­nach­tet woan­ders, wenn er nicht über­haupt nach Tirol der Salz­burg fährt.

Das Aich­feld hat ein­mal Arbeits­plät­ze gebo­ten. Im Koh­le­berg­werk hast du nicht schlecht ver­dient. Heu­te gibt es eine Men­ge arbeits­lo­ser Aka­de­mi­ker, damals warst du froh, wenn du als Hau­er die Fami­lie ernäh­ren konn­test. Die Geschwis­ter mei­ner Groß­mutter sind in den frü­hen 50ern nach Kana­da aus­ge­wan­dert. Zehn Jah­re spä­ter waren die Frau­en über­rascht, als sie das Haus mei­ner Groß­mutter sahen. Dass auch sie einen Radio­ap­pa­rat besaß. „Wenn wir gewusst hät­ten, dass es uns hier auch ein­mal so gut gehen wür­de…“.

Mein Vater ist nach der Matu­ra nach Wien geflüch­tet, mei­ne Tan­ten sind nach Graz gezo­gen. Die 3 Töch­ter mei­ner Groß­tan­te sind eben­falls nach Graz. Eine von ihnen ist vor eini­gen Jah­ren wie­der zurück nach Juden­burg, sie lebt mit ihrer Fami­lie hier – wenn ich den Ate­lier­aus­gang benüt­ze, brau­che ich nur über die Stra­ße zu gehen, um sie zu besu­chen.

Was ist die­ses Juden­burg?

Sibyl­le Rarej (die die­ses Pro­jekt hier betreut – ange­fan­gen vom Sich­ten der Ein­sen­dun­gen über Loft­ver­ga­be und Betreu­ung vor Ort) erzählt mir im Auto, zwei der ehe­ma­li­gen Loft­künst­ler hät­ten sich hier ange­sie­delt. Einen von ihnen habe ich im Som­mer ken­nen­ge­lernt. Er hielt mir das Mikro­phon unter die Nase und frag­te mich nach mei­nen Asso­zia­tio­nen zu die­ser Stadt. Da war einer­seits die Kind­heit. Die Kuh­wei­de und der Mist­hau­fen. Der Geruch nach Hei­mat – aber das war Wasen­dorf, schon gar nicht mehr Juden­burg. Dann war da mei­ne Recher­che. Ich saß damals tage­lang im Stadt­mu­se­um und habe alte Zei­tungs­ar­ti­kel, Ver­haf­tungs­pro­to­kol­le, Augen­zeu­gen­be­rich­te, Feld­post­brie­fe und Han­dels­re­gis­ter stu­diert. Und dann war da noch die Aus­sa­ge mei­ner Ver­wand­ten, die, als ich sie frag­te, war­um sie mit ihrer Fami­lie nicht in das Haus in Ober­weg zöge, mein­te, sie wol­le ihre Stadt­woh­nung nicht auf­ge­ben. Vom Haus zum Haupt­platz sind es, wenn man gemüt­lich mit dem Han­dy am Ohr geht, ca 15 – max 20 Geh­mi­nu­ten. Ich habe ins Mikro­phon gelacht. Stadt­woh­nung! Wo denn da jetzt der Unter­schied sei. Das wäre, als hät­te man in Wien eine Woh­nung im 8. und eine Woh­nung im 16. Kei­ne Fra­ge, der 8. ist schö­ner. Wei­ter oben im 16. ist es schön grün. Aber da gehst du dann schon län­ger als 15 Minu­ten.

War­um tust du dir die­se Pen­de­lei an?, wer­de ich von mei­nen Ver­wand­ten in Wien gefragt. Da kommst du doch wie­der nicht zum Schrei­ben.

Als Artist in Resi­dence musst du dich mit Juden­burg aus­ein­an­der­set­zen. Ich habe mir nicht erst über­le­gen müs­sen, wie ich die­se Stadt in mein Pro­jekt inte­grie­ren könn­te. Als ich die Aus­schrei­bung las, gab es mein Pro­jekt bereits seit einem hal­ben Jahr.

Als ich das ers­te Mal nach Juden­burg reis­te, nahm ich mir ein Zim­mer in der Pen­si­on Reichs­tha­ler. Traf mei­ne Groß­tan­te, ließ mir von ihr erzäh­len, fuhr nach Wasen­dorf und Fohns­dorf. Foto­gra­fier­te. Such­te Namen auf Fried­hö­fen und in alten Han­dels­re­gis­tern. Im Som­mer kam ich aber­mals her. Man stell­te mir im Stadt­mu­se­um einen Tisch sowie das gan­ze Juden­bur­ger Archiv zur Ver­fü­gung. Vier Tage saß ich beim schöns­ten Som­mer­wet­ter im recht küh­len Muse­um und frag­te mich: Wie soll ich in die­ser kur­zen Zeit je fer­tig wer­den? Die Recher­che­kos­ten wuch­sen an (Bahn­fahr­ten, Pen­si­on), ich sprach in mei­nen MP3 Play­er und kopier­te Zei­tungs­be­rich­te und Tele­fon­buch­ein­trä­ge. Wie­der in Wien stell­te ich fest: Ich weiß noch immer zu wenig. Wie war das mit dem Gabe­rl und dem Sem­me­ring genau? Wie kann man am Gabe­rl lan­den, wenn man über den Sem­me­ring nach Wien will? Am Ende des Som­mers bemerk­te ich: Ich wuss­te zuviel! Ich hat­te den Kopf voll mit geschicht­li­chen Details, die ich erst wie­der ver­ges­sen muss­te.

Was wird man spä­ter ein­mal über Wien und die Wie­ne­rIn­nen von heu­te sagen und schrei­ben? Und doch wer­den wir in 50 Jah­ren ganz ande­re Geschich­ten erzäh­len. Die Geschich­te in den Geschichts­bü­chern ist eine gänz­lich ande­re Sache als die pri­va­te Geschich­te einer Fami­lie. Da wird dir nicht erzählt: Am Tag des Ein­mar­sches in Polen, son­dern da heißt es: Am Tag, an dem sich dei­ne Urgroß­mutter das Bein brach. Und je mehr zu nach­fragst, des­to mehr erkennst du die Lücken. War­um kam mein Urgroß­va­ter hier­her? Aus­ge­rech­net nach Juden­burg? Und wie hat er es geschafft, als „Aus­län­der“ eine Speng­le­rei zu eröff­nen, wo er doch hät­te Pfar­rer wer­den sol­len? Und wie hat er eigent­lich mei­ne Urgroß­mutter ken­nen gelernt?

Ich ren­ne als Autorin und Uren­ke­lin durch die Gas­sen und suche nach einer Ver­gan­gen­heit, die nicht mehr greif­bar ist. Sie ist etwas Vages, etwas, das in mei­nem Kopf als unschar­fes Schwarz­weiß­bild exis­tiert. Ich möch­te etwas ver­ste­hen. Wie soll ich über frem­de Wur­zeln (die mei­ner Prot­ago­nis­tin) schrei­ben, wenn ich die eige­nen nicht ver­ste­he. Kat­jas Leben und das mei­ne sind wie ein Web­tep­pich. Unse­re Leben flie­ßen inein­an­der, ich ver­hed­de­re mich in Erin­ne­run­gen und Erfun­de­nem.

Vor mei­nem Fens­ter hier steht ein Gerüst. Vor einer Woche habe ich vor Kat­jas Hotel­fens­ters ein Gerüst auf­ge­stellt. Manch­mal gibt es Momen­te, da weißt du nicht mehr, wo das eige­ne Leben endet und das dei­ner Prot­ago­nis­tin beginnt. Oder umge­kehrt. Du kippst in einen Sog, tauchst unter und wenn du wie­der auf­tauchst, stellst du plötz­lich fest, dass aus der Fik­ti­on Rea­li­tät gewor­den ist.