Wie etwas ver­ste­hen?

Leo­nard Cohen auf einer knack­sen­den Plat­te mei­ner Mut­ter. Das war mein ers­ter Kon­takt mit einem Begriff, der mir so gut wie nichts sag­te: Par­ti­san. Wie alt war ich? 16? Mein Eng­lisch war gut genug, um jedes Wort zu ver­ste­hen, mein Fran­zö­sisch immer­hin gut genug, um her­aus­zu­fin­den, dass es sich um eine Art Wie­der­ho­lung han­del­te. Die Nadel immer wie­der hoch­he­ben und neu anset­zen. So stand ich vor dem Plat­ten­spie­ler.

Ich weiß nicht, ob ich nach­ge­fragt habe. Der, den ich hät­te fra­gen kön­nen, war gera­de gestor­ben. Viel­leicht hät­te mir mein Groß­va­ter sei­ne eige­ne Geschich­te erzählt, von der ich erst 10 Jah­re spä­ter erfuhr. Höchst­wahr­schein­lich aber hät­te er mir von Spa­ni­en und Frank­reich – viel­leicht sogar von Jugo­sla­wi­en und Tito erzählt. Sei­ne 2.Weltkriegs-Erfahrungen hät­ten nicht zu mei­ner Fra­ge gepasst, denn mein Groß­va­ter war (in den Augen sei­ner Gene­ra­ti­on) kein „Held“. Mein Groß­va­ter war ein Deser­teur. Ist mit sei­nen neun­zehn Jah­ren geflo­hen – irgend­wo im rus­si­schen Nir­gend­wo hat er es geschafft, sich unbe­merkt abzu­set­zen. Ist mona­te­lang durch die Schnee­wüs­te(?), immer abhän­gig von jeman­dem, der ihm einen Unter­schlupf gewähr­te und ein Stück Brot in die Hän­de drück­te, ohne ihn zu ver­ra­ten. Haupt­sa­che zu den Ame­ri­ka­nern, das soll sein ein­zi­ger Gedan­ke gewe­sen sein. Sei­ne Geschich­te in 3 Sät­zen zusam­men­ge­fasst, am Gar­ten­tisch mei­ner Groß­mutter als ich etwa 27 Jah­re alt war.

An old woman gave us shel­ter, kept us hid­den in the gar­ret, then the sol­diers came

Mit 16 wuss­te ich nichts über mei­nen Groß­va­ter (die schwei­gen­de Gene­ra­ti­on). Mit 16 wuss­te ich auch nichts über den Wider­stand. Ich sah ein Dorf in Frank­reich. Jun­ge Män­ner, die sich auf Dach­bö­den ver­steckt hiel­ten und jene, die schwei­gend für sie star­ben.

Mei­ne Mut­ter habe ich nicht befragt. Ich hat­te Angst vor dem stren­gen Blick jener Frau, die jede Geschichts­fra­ge bei Tri­vi­al Pur­su­it beant­wor­ten konn­te. Die alle Mon­ar­chen und Jah­res­zah­len im Kopf hat­te. „Hast du schon wie­der nicht auf­ge­passt im Unter­richt?“

Heu­te begrei­fe ich, dass sie mir nicht viel hät­te erklä­ren kön­nen. Sie wuss­te alles über die Baben­ber­ger und Habs­bur­ger und auch über Alex­an­der den Gro­ßen oder die rus­si­schen Zaren. Ihr Geschichts­un­ter­richt hat­te aus römi­schen und per­si­schen Feld­zü­gen, Mon­ar­chien und Revo­lu­tio­nen bestan­den. Bis zum Zwei­ten Welt­krieg war man in den 70er-Jah­ren nicht gekom­men.

Unser Geschichts­un­ter­richt bestand aus Namen von Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern. Zah­len von Ermor­de­ten, Rou­ten von Vieh­wag­gons, Todes­mär­schen. Aus­lö­schung. So sehr man das Grau­en bis dahin hin­ter fest ver­schlos­se­nen Türen gehal­ten hat­te, so sehr mein­te man jetzt, alle Türen auf ein­mal öff­nen zu müs­sen. Die Baben­ber­ger waren unwich­tig gewor­den, jetzt ging es um die Auf­ar­bei­tung der Schuld einer gan­zen Nati­on. Öster­reich war aus sei­nem 50jährigen Opfer­schlaf erwacht.

Zu sel­ben Zeit flamm­te ein paar Kilo­me­ter wei­ter süd­lich der Bal­kan-Krieg auf. Maschi­nen­ge­weh­re und Gra­na­ten. Dorf­brän­de, Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Völ­ker­mord, Elend. Mas­sen­flucht nach Öster­reich. Das woll­ten wir ver­ste­hen. Wie­so bekämpf­ten sich Nach­barn, die über Jahr­zehn­te fried­lich neben­ein­an­der gelebt hat­ten? Man ging nicht auf unse­re Fra­gen ein. (Für Nach­bar-in-Not durf­ten wir sin­gen, das schon.)

Dabei hät­te man so leicht die Gegen­wart in den Unter­richts­stoff ein­bin­den kön­nen, hat­te doch auch die­ser Krieg mit der Ver­gan­gen­heit zu tun, mit derUstaša und den Tito-Par­ti­sa­nen. Aber Tito stand nicht am Lehr­plan. Tito war weder guter Par­ti­san noch böser Dik­ta­tor, Tito war nicht vor­han­den. Jugo­sla­wi­en war weit weg, war das Land, in das wir auf Urlaub fuh­ren, an des­sen Strän­den wir unse­re Luft­ma­trat­zen auf­blie­sen und in dem wir Cevap­ci­ci aßen.

1992 wur­de Sara­je­vo bela­gert. Wir schrien auf und wur­den ermahnt. Dass wir das nicht ver­glei­chen dürf­ten. Sara­je­vo exis­tier­te im Unter­richt wei­ter­hin nur als Ort des berühm­ten Atten­tats. Thron­fol­ger tot, Ulti­ma­tum, Krieg, Hun­ger und Not. Wirt­schafts­kri­se, Bür­ger­krieg. Und dann war da auch schon der Jubel am Hel­den­platz. Das Böse hat­te die Welt über­schwemmt, weil unse­re Urgroß­el­tern mit „Ja“ gestimmt hat­ten und unse­re Groß­el­tern der HJ und dem BdM bei­getre­ten waren. Sie hat­ten mit­ge­macht, waren in den Krieg gezo­gen und danach hat­ten sie geschwie­gen. Wir soll­ten nicht schwei­gen, wir soll­ten die 6 Mil­lio­nen laut hin­aus­brül­len.

Maut­hau­sen, Dach­au, Ausch­witz, Treb­linka. Unzäh­li­ge Doku­men­ta­tio­nen mit abge­ma­ger­ten Kör­pern in gestreif­ten Anzü­gen. Exkur­sio­nen. Todes­stie­ge, Bara­cken, Haar­ber­ge, her­aus­ge­bro­che­ne Gold­zäh­ne. Ver­bren­nungs­öfen und hohe Schlo­te. Kno­chen­split­ter auf einer grü­nen Wie­se außer­halb der pol­ni­schen Stadt. Man ver­lang­te Trä­nen und wir wein­ten sie ohne zu ver­ste­hen. Und irgend­wann stumpf­ten wir ab. Man hat­te erreicht, was man nicht gewollt hat­te: Wir wur­den schweig­sam. Wir sag­ten: „schreck­lich“ und „grau­en­voll“, aber wir fühl­ten nichts mehr. Und wäh­rend wir das Nichts­füh­len lern­ten, ersann ein öster­rei­chi­scher Poli­ti­ker das Aus­län­der­volks­be­geh­ren „Öster­reich zuerst“.

Was schreibst du denn über das alte Zeug, das inter­es­siert doch nie­man­den mehr, höre ich, wenn ich von mei­nem Roman­pro­jekt erzäh­le. Beginn doch lie­ber bei den Hip­pies in Knit­tel­feld, let´s Knit­tel­zelt, Baby, und lass die Vor­ge­schich­te aus, die kennt man doch schon.

Vie­le mei­ner Gene­ra­ti­on kön­nen das Wort Holo­caust nicht mehr hören. Vor 20 Jah­ren hat man uns mit der Schock­pis­to­le nie­der­ge­drückt und dann tot­ge­re­det. Was blieb, ist eine Auf­leh­nung gegen eine als über­ge­stülpt emp­fun­de­ne Schuld. Man hat uns Fak­ten und Zah­len prä­sen­tiert und dar­über den Mensch ver­ges­sen. Man drück­te uns schlan­ke Geschichts­bü­cher in die Hand statt Lite­ra­tur. 6 Mil­lio­nen Juden gegen 8000 Ermor­de­te beim Mas­sa­ker in Sre­bre­ni­ca. Der Unter­schied bestand für uns in einer Dif­fe­renz, die wir im Kopf aus­rech­nen konn­ten. Die Toten brann­ten sich in unse­re Netz­häu­te als Fern­seh­bil­der ein. Unse­re Wirk­lich­keit war eine ande­re und wir leb­ten sie wei­ter. Was hät­ten wir schon tun kön­nen?

Ich fah­re ich nach Juden­burg. Ich for­sche im Archiv des Stadt­mu­se­ums. In einem Schu­ber fin­de ich Augen­zeu­gen­be­rich­te. Erfah­re, dass der Todes­marsch unga­ri­scher und pol­ni­scher Juden durch die­se Stadt führ­te. In einem ande­ren Schu­ber fin­de ich Ver­haf­tungs­pro­to­kol­le. Ich lese das ers­te mal vom stei­ri­schen Wider­stand, der trotz der Ver­haf­tungs­wel­len sich wie ein Phö­nix aus der Asche immer wie­der von neu­em erhob. Es waren nicht vie­le Muti­ge, ver­gli­chen mit der Anzahl der Rest­be­völ­ke­rung, aber es gab sie. Eini­ge der Wider­stands­kämp­fer waren Deser­teu­re. Wenn schon ster­ben, dann für die rich­ti­ge Sache. Ande­re waren Jugend­li­che. Fabriks­ar­bei­ter. Frau­en. Wenn sie weg­ge­schaut hät­ten, wäre ihnen nichts pas­siert. Sie ent­schie­den sich den­noch, etwas zu tun.

Zwi­schen den Akten­de­ckeln suche ich nach einer Wahr­heit. Was unter­schied den einen Bru­der, der nach dem Ein­be­ru­fungs­be­fehl in den Krieg zog vom ande­ren, der in den Wäl­dern kämpf­te? War es viel­leicht nur eine klei­ne Abzwei­gung?

Wäh­rend es die Auf­ga­be des His­to­ri­ker ist, objek­tiv zu blei­ben, darf (ja, muss!) ein Künst­ler sub­jek­tiv sein. Viel­leicht habe ich des­we­gen, als ich im Alter von 16 Leo­nard Cohen hör­te, ange­fan­gen, ganz lei­se eine Wahr­heit zu ver­ste­hen, die zwi­schen den Sei­ten mei­nes Geschichts­bu­ches nicht zu fin­den war.