Rail­jet 731 von Wien Meid­ling nach Vil­lach Hbf

Unzäh­li­ge Fahr­ten. Wie­der­ho­lung. Starrst hin­aus, die Augen halb offen, den Ellen­bo­gen am Fens­ter, Kopf in der­Hand­flä­che. Wenn die Schnee­fel­der lang­sam län­ger – aus dem BRAUN­weiß ein braun­WEISS wird. Du nach hin­ten­ge­drückt in den Sitz. Bar­rie­re, Alpen­be­ginn. Dort, wo Hei­mat anfängt.

Noch wird der Wald unter­bro­chen. Lang gestreck­te Beton­bau­ten. Flach. Graf­fi­tis.

Osten.

Als Kind hast du die Him­mels­rich­tun­gen ver­wech­selt. Hast gesagt: Im Osten möch­te ich nicht zur Schu­le gehen, da fan­gen die Feri­en eine Woche frü­her an. Dass das nicht gut sei, wenn man dann schon in die Schu­le müs­se, wenn die­an­de­ren noch frei.

Dei­ne Mut­ter hat dich ange­schaut. Mit ihrem Blick. Die Augen ver­dreht.

Und wie­der hat es was gege­ben, was hier nicht bes­ser war. Hier, das du für den Wes­ten hiel­test und das der Osten war.

Und heu­te denkst du: Der Wes­ten ist ganz woan­ders. Dort, wo sie han sagen. Dort­hin fährt man dann noch­mals so lang.Vorarlberg, das liegt schon am Weg nach Eng­land. Dort bist du immer durch, wenn du auf die Insel gefah­ren bist. Weil­du dir damals ein­ge­bil­det hast, dort eine neue Hei­mat zu fin­den, aber dann hast du dich dort noch ein­sa­mer gefühlt. Erst in Wales. Wo es wie­der Hügel. Die es nur hier gibt. In der Mit­te. Die nicht Wes­ten und nicht Osten und nicht Süden.

Und nicht mal Nor­den.

Ober­stei­er­mark. So hat es im Atlas gehei­ßen.

Aber wenn du jetzt fährst, denkst du: Das ist nicht Ober. Ist schon am Weg hin­über, Wes­ten, Sprach­gren­ze. Wo sie   zu Ostern. Bei euch fehlt denen das n, und doch ist da schon die­ses lan­ge a.

Und als die Groß­mutter nach Graz. Wo es gehei­ßen hat: Stadt. Und dann hat die Nach­ba­rin die Os und AUs jedes mal mit einem U, dass ihr in einen Lach­krampf aus­ge­bro­chen seid. Das habt ihr nicht gekannt, die­ses „Gebell“ wie esall­ge­mein heißt. (Dabei hat sie gar nicht gebellt, die Nach­ba­rin. War bis­sig, das ja, vor allem wenn sie vom Man­ner zähl­te, mit dem sie schon damals seit 20 Jah­ren nicht mehr sprach.)

In der Ost­stei­er­mark, dort „bel­len“ sie rich­tig. Das hast du auch lan­ge nicht gewusst, was das hei­ßen soll:Oststeiermark. Hast dir gedacht, dass das der Teil sein muss, der hin­ter dem Berg liegt. In dem ver­rauch­ten Auto vom­Chef dei­ner Mut­ter, der dich mit­ge­nom­men hat, und bei dem du das ers­te Mal nicht hast spei­ben müs­sen, weil es dort wenigs­tens nach Rauch und nicht nach künst­li­chem Leder und Vanil­le­baum, wie in ande­ren Autos.

Wenn Wien der Osten ist, hast du gedacht, war­um fah­ren wir dann so lan­ge rüber zum Berg.

Erst spä­ter dann, als du dir die Land­kar­ten ange­se­hen hast. Als es um Frie­dens­ver­trä­ge und Grenz­ver­tei­di­gung ging. Da hat du es dann kapiert. Dass es auch wei­ter unter­halb einen Osten gibt Und dass ihr oben vor­bei. Dann hast du auch dieGren­ze zum Bur­gen­land ver­stan­den. Wie sich das aus­ge­hen kann, wo doch Nie­der­ös­ter­reich.

Dass Öster­reich mehr ist als der Schlauch, den du seit der Volks­schu­le im Kopf gehabt hast. Bur­gen­land –Nie­der­ös­ter­reich (in der Mit­te Wien) – Ober­ös­ter­reich oben, Stei­er­mark unten – Salz­burg oben, Kärn­ten unten.Verengung, Tirol, Vor­arl­berg. Die zart­ro­sa Fel­der mit dem Kreis, in den ihr die Haupt­städ­te habt ein­tra­gen müs­sen. Die gro­ße rote Stadt oben rechts, in der du geses­sen bist, in einem Klas­sen­zim­mer und auf den rosa­far­be­nen Fleck mit der­Ab­kür­zung Stmk gestarrt hast. Immer hast du die­sen Fleck gesucht, auf jeder Kar­te, in jedem Atlas. Und dann: Erzberg.Wenn du den gefun­den hast, mit dem Fin­ger nach unten.

Das war, als man dich dann schon allein in die Bahn gesetzt hat. Bei Bruck dann der ande­re Weg. Wien-Graz-Bruck, foama wie­da zruck. Der Fin­ger der Groß­mutter von der Stirn zur Nase zum Kinn, das „Zruck“-Fahren mit dem Fin­ger­hin­auf hat die Lip­pe schnal­zen las­sen. Wie du gesagt hast, dass du das nicht ver­stün­dest, war­um Graz die Nase und Bruck das Kinn, dass man doch zuerst durch Bruck und dann erst… Aber sonst reimt sich’s nicht, hat die Groß­mutter­ge­sagt. Mit dem Fin­ger dein Gesicht ent­lang, immer und immer wie­der. Wien-Graz-Bruck.

Foama wie­da zruck.

Mit der Wurst­sem­mel im Zug. Jeden Biss so lan­ge gekaut wie mög­lich. Die Sem­mel immer wie­der weg­ge­steckt, dass­noch was übrig bleibt, für mor­gen und über­mor­gen. Wo doch die Sem­mel das ein­zi­ge war, was du  hast mit­neh­men dür­fen. Schlu­cken hast du sowie­so nie kön­nen.

Foama wie­da zruck.

Dann war wie­der mona­te­lang alles grau. Geduckt. Vor allem spä­ter, als ihr von einem Bezirk in den ande­ren. Wo dann kein ein­zi­ger Baum mehr. Nur die­se graue Beton­qua­der­wüs­te und die müden Gesich­ter jener, die mit dir nach Hau­se gekom­men sind und sich um 15 Uhr haben schla­fen legen müs­sen, weil sie schon um 6h die Woh­nung ver­las­sen haben.Das Hus­ten hin­ter der Tür jeden Mor­gen, das Aus­spu­cken. Das Rub­beln des abge­schleck­ten Zei­ge­fin­gers auf dei­ner­Wan­ge. Pickig, kalt im Win­ter. Wie du wie­der aus­siehst. Und: Steig nicht in den Schnee, der ist schmut­zig.

Hin­ter dem Sem­me­ring wur­de nicht geküsst. Dort war es eisig und flach.

Hin­ter dem Sem­me­ring leben die Hin­ter­wäld­ler.

Sie hat­ten eine ande­re Sicht. Von hin­ten und vor­ne und von Osten und Wes­ten, die du immer ver­wech­selt hast wie links und rechts. Nie ohne Sei­fe waschen. Immer schön brav im Uhr­zei­ger­sinn. Nie-Ohne-Sei­fe-Waschen. Bau­ern­kind, wie­die redet. Ohne. Ooo­ne. Den Mund spit­zen. Den Unter­kie­fer zurück­bin­den. Kie­fer­ver­kramp­fung.

Las­sen Sie locker, sagt der Phy­sio­the­ra­peut.

Wie soll man einen Mus­kel ent­span­nen, den man seit 30 Jah­ren anspannt? Kei­ne natür­li­che Kör­per­hal­tung, kei­ne natür­li­che Spra­che. Alles antrai­niert.

Und als du dann wie­der zurück in die Fär­bung woll­test, weil sie dich wegen dei­nes Hoch­deutschs gemie­den haben.Eingebildet, haben sie gesagt. Da hast du das Stei­ri­sche nicht mehr gekonnt und das Wie­ne­ri­sche war dir fremd. Kaas und Genack, hast du gesagt. Und wie­der haben sie gelacht.

Woher kommst du, fra­gen sie dich heu­te, wenn du mit dei­nem Tel­ler an einem der Tische stehst und dich erklä­ren sollst. Wie­so? Aus Wien, sagst du dann und ver­suchst, dein Gesicht zu ent­span­nen, aber trotz­dem bekommst duNa­cken­schmer­zen. Bei dir erken­nen sie nichts, weil es nichts zu erken­nen gibt. Du sprichst mit jedem anders.Übernimmst Wor­te. Akzen­te. Sprach­ge­wohn­hei­ten. Kippst in die Spra­che der ande­ren ohne es zu wollen.Mischsprache. Iden­ti­täts­ver­lust. Benei­dest ande­re um ihren Dia­lekt. Um ihre Zuge­hö­rig­keit. Um den Fleck Land­schaft, den sie auf der Zun­ge tra­gen.

Jetzt bist du hin­un­ter vom Berg. Nimmst die Hand unterm Kinn weg. Die Schnee­fel­der las­sen nach. Hast den Sem­me­ring ver­säumt. Knapp vor Bruck lang gestreck­te Beton­bau­ten, dann die hohen. Musst nicht hin­schau­en, Augen zu.

Die Bahn fährt gera­de­aus. Nicht nach unten links, wie die letz­ten 30 Jah­re, son­dern wei­ter ins Hüge­li­ge. Wenn du aus­steigst, wirst du den Rauch rie­chen, von dem sie sagen wer­den, dass es ihn nicht mehr gibt, weil kei­ner mehr mit­Koh­le heizt. Und du wirst die Kühe rie­chen, von denen sie dir sagen wer­den, dass man sie hier nicht rie­chen kann, weil sie zu weit weg sei­en.

Dies­mal wirst du dei­nen Mund hal­ten. Weil dir sowie­so kei­ner abnimmt, dass Schorn­stein­rauch und Kuh­dung die besteLuft sind, die du kennst. Dass du das riechst, weil du aus Wien kommt, wo es das Wei­che der Kühe nicht gibt. Weil inWi­en der Rauch aus den Schorn­stei­nen das ein­zi­ge ist, das dich an Hei­mat erin­nert.

Die Zug­fens­ter sind ver­sie­gelt. Musst den Ham­mer neh­men und ein­schla­gen.

Noch ste­hen kei­ne Kühe auf den Wie­sen. Noch liegt der Schnee, aber sogar den haben sie aus­ge­bag­gert. Bahn­hof­um­bau.

Wien-Graz-Bruck. Wien-Bruck, Graz lässt du links lie­gen. Nach drei­ßig Jah­ren wie­der gera­de­aus. Siehst den­Schul­at­las. Die Sei­te, die ganz spe­ckig. Die Fin­ger­spu­ren. Den Erz­berg hast du an dem Zei­chen erkannt. Von dort mit­dem Fin­ger run­ter. In vier­zig Minu­ten bist du da.