Samstagvormittag. Bauernmarkt, Wald und Hauptplatz Nord
Morgeneinkauf. Bauernmarkt, Kürbiskernöl. Kaffee, Marmeladenbrot. Spaziergang. Danach, so nimmst du dir vor, setzt du dich hinter den Laptop. Um halb Zwölf, noch vor dem Mittagessen. (Mittagessen. Auch so eine Neuigkeit. Wenn man früh raus und in den Wald. Dass man da plötzlich um eine Zeit Hunger auf was Warmes, wo man normalerweise erst den zweiten Kaffee.)
Die Sonne scheint, das Eis knackst, wenn du durch den Wald gehst. Vor dem Eisgeschäft sitzen Leute in ihren Daunenjacken und schlecken Gefrorenes. Der Hauptplatz ist leer, die Bauern bauen ihre Stände ab. Hauptplatz Nord, und auch dort Stühle draußen. Dass man hier in einen Monat, denkst du und zückst den Fotoapparat. Dass man hier sitzen wird. Wo dann der Baum. Den ihr bestücken wollt, mit Literatur. Und dass dann da hoffentlich. Und dann plötzlich, durch den Sucher, eine winkende Hand. Setzt dich dazu, auf eine Tasse Kaffee. Wirst zum Mittagessen eingeladen, für den folgenden Tag. Heute nicht, du hättest noch etwas zu tun, sagst du.
Dass das hier anders als in der Großstadt. Wenn du dir manchmal ein Wochenende freischaufelst (mühsam) aber dann klappt das mit dem Alleinsein plötzlich nicht, in Wien. Wenn du dann alle anrufst, einen nach dem anderen. . In der Großstadt muss man sich rechtzeitig kümmern. Da kannst du nicht spontan. Höchstens an der Bar, aber wenn du keine Barhockerin, wenn du lieber auf einen Kaffee.
Hier geht das. Irgendwer sitzt immer draußen, den du kennst. Da musst du hinten rum schleichen, wenn du allein sein willst. Aber das willst du gar nicht.
Auf eine Stunde dazusetzen, das Gesicht in die Sonne und eine Tasse Kaffee.
M. und C. haben sich beim Einkauf getroffen. Gingen mit ihren gelben Plastiksäcken nicht den direkten Weg, sondern setzten sich unter dem Baum, neben die Rutsche. M.s Handy fiept. Tut’s derweil, sagt sie zu der Tochter, die anruft. Ich komm dann gleich und koch euch was. Ich sitz hier noch ein Weilchen.
M. ist Buddhistin. Beim Kaffee erzählt sie uns von den Treffen und Vorträgen. Dass sie viel ruhiger seitdem. Dass man da vieles hinter sich lässt. Den Neid, die Eifersucht, den Stolz. Und das Katholische.
Ich frage nach: Wie ist das hier mit dem Kirchengehen? Weil ich gefragt worden bin. Ob das hier auch so sei wie im Burgenland. Dass da ein jeder, dass man müsse, sonst würde ein jeder reden.
Ich kenne die Kirche aus Wien und Niederösterreich. Meine Verwandten hier hatten es nicht so mit der Kirche. Wenn die Kusine meines Vaters Fleisch weiht (sie tut es selbst, denn aus der Kirche ist sie ausgetreten), spöttelt meine Großtante: In nomini patris et filii….
Aber wo!, sagt C., die mit am Tisch sitzt und mir vom Thailändischen Buddhismus und dem Katholischsein in der Südsteiermark erzählt. Hier in Judenburg sei man doch rot. Da habe man mit der Kirche nicht viel am Hut. Manche Familien vielleicht, aber konservativ und erzkatholisch? Weit entfernt. Und dass sogar in der Südsteiermark, wo sie herkommt, wo die Bauern alle tiefschwarz. Dass man nicht mal dort. Dort ginge man am Sonntag ins Wirtshaus. In der Kirche weiht man das Osterfleisch, mehr auch schon nicht.
Das geweichte Fleisch und die geweichten Eier. Die gibt es also auch hier.
In Wien war Glaube Privatsache. Palmkatzerlweihe. Wo ich als Kind, mit dem Großvater, am Maurer Hauptplatz. Wo er herkam, war das anders. Wenn du da nicht in die Kirche bist, haben es am Nachmittag alle gewusst. Alles hat man gewusst. Wer bettlägerig, wer den Fuß verstaucht und wer einfach nur so nicht. Ob das heute auch noch so ist, frage ich mich. Dass die Jungen bestimmt nicht mehr. Aber wer weiß, ob es dort noch Junge gibt. Die ziehen alle weg von den feuchten lang gestreckten Häusern. Weg von der Landwirtschaft. Wo man um halb Fünf aufsteht, mit der Feldarbeit beginnt und bis zwei Uhr den Kartoffelsalat und die Torten für den Heurigen. So wie die Geschwister meines Großvaters. Und dann stirbt der eine Anfang 40 an Krebs und die Mutter am Herzinfarkt. Der Vater hat einen offenen Fuß, die Schwiegertochter bleibt allein übrig. Dass die es auch nicht leicht hat. Nie leicht gehabt hat. Und trotzdem immer gelacht. Die habe ich gern gehabt als Kind, die Maria. Und manchmal denke ich, dass ich wieder einmal hinausfahren sollte. Hallo sagen – nicht Griaß di, so wie früher, als Kind, mit dem gesenkten Kopf.
Dass das alles Teile von mir sind. Erinnerungen aufgesplittert in Gerüche. Wo es hier nach warmer Wiese und Kühen, hat es dort nach Schmalz, Wein und Moder gerochen. Das kam von den feuchten, geduckten Häusern. Und die Ferkel, die ich als Kind so gerne. Dass das keine Tierhaltung war, die man heute befürworten würde. Dafür hätte das Geld nicht gereicht. Die Schweine, die hast du geschwind mästen müssen. Verkaufen, bevor sie dich mehr kosten als du daran verdienst.
Dass es hier gar nicht nach Kühen riechen kann, sagt C. In Judenburg gäbe es keine Kühe. O doch!, beharre ich, hier riecht es nach Kuh. Ganz leicht. Hinter Oberweg dann stärker, in der einen Schlaufe.
C. und M. sitzen und hören mir zu. Überlegen, wie es sein kann, dass es auch hier. Ob wegen der Gärten, ob sie jetzt schon düngen.
Gestern habe ich mit einer Freundin telefoniert. Dass ich ein olfaktorischer Typ sei, habe ich gesagt. Dass ich, wenn ich jemanden nicht leiden könne, sage: Den kann ich nicht riechen. Dass ich nie sage: Den kann ich nicht sehen.
Meine Wahrnehmung hakt sich an Gerüchen fest. Das Hinschauen habe ich mir antrainieren müssen. Dass ich mir heute noch schwer täte, Dinge zu beschreiben, sage ich. Worte dafür zu finden, wie etwas aussieht. Dabei ist es noch immer leichter, das Grün einer Weide zu beschreiben (den verfallenen Holzzaun, die eingetrockneten Fladen, die sonnenverbrannten Stellen) als ihren Geruch. Der Geruch, das ist ein Gefühl. Ist Wärme. Ist Vertrautheit. Ist Glück.
M. und C. schütteln den Kopf. Lachen. Sie riechen nichts.
Riech die gute Landluft, sagte meine Großmutter, wenn wir morgens beim Misthaufen vorbeikamen. Meine Tante B. erinnert sich an den Kuhmist, den sie von der Stadt zum Garten in Grünhübl haben karren müssen. Wie es von der Scheibtruhe hinunter getropft und gestunken hat.
Riech die gute Landluft, sagte meine Großmutter und drückte ihre Verachtung aus. Sie war Judenburgerin. Tochter eines Handwerkers. Keine Bäuerin. Die Kühe in Wasendorf waren mir Heimat, ihr waren sie zuwider. Meine Großmutter hat sich als Städterin gesehen. Zwischen Judenburg und Wasendorf liegen Welten. Jeden Freitag stieg sie in den Bus und fuhr in die Stadt. Ließ die Kinder bei der Mutter und setzte sich in die Konditorei, wo sie ihre Schwester und die Brüder traf. Beim Rathschüller war meine Großmutter glücklich.
Was, wenn meine Großmutter weniger spöttisch gewesen wäre? Wenn sie gesagt hätte: Da stinkt’s, dass einer Sau graust? (Aber sowas sagen nur Wiener)
Als Kind nimmt du die Sätze so, wie sie sind. Die gute Landluft ist die gute Landluft. So, dass du später noch jedes Mal das Fenster hinunter kurbelst, wenn du eine Alm siehst. Tief die Luft einsaugst, während der neben dir sagt: Mach um Himmels Willen das Fenster zu!
Ich tausche jedes Raumparfum gegen den Duft einer vollgeschissenen Almwiese. In Parfümerien wird mir übel. Dort riecht es nach zerknittertem Busenansatz, Gucci und Pelzmantel.
Meine Großmutter hatte auch so ein Parfum. Hatte es von Ich-weiß-nicht-wem geschenkt bekommen. Das tat sie in das Fach für den Weichspüler. Dann duftet die Wäsche gut, sagte sie. Wenn es sich verteilt, hältst du es aus.
Meine Großmutter war nicht verwelkt und sie trug keinen Pelzmantel. Meine Großmutter hatte Angst vor den Pferden ihres Mannes, und vielleicht hatte sie auch Angst vor den Kühen hinter ihrem Gartenzaun. Meine Großmutter las gerne Zeitung, ging in die Oper und löste die Eckstein-Rätsel. Wenn sie etwas nicht wusste, schaute sie im Lexikon nach. Mit sechzig lernte sie Englisch, um sich mit ihren Nichten verständigen zu können.
Meine Freundin steht in meiner Küche. Schaut auf das Foto, auf dem meine Großmutter im Gartenstuhl sitzt.
Die Frauen in deiner Familie sehen alle aus wie Damen, sagt sie. Dass sie meine Großmutter ein wenig an die Queen erinnere. Und dass ich dieselbe Haltung. Dieses Gerade.
Ich sehe sie verwundert an. Dass ich mich doch immer klein mache, Nacken nach vor, dass ich es nie schaffe, gerade zu sitzen und dass ich deswegen ständig Rückenschmerzen hätte.
Ich muss an eine Zeit denken, in der ich gerne anders gewesen wäre. Als ich mit einer Freundin in Berlin Geld für die U‑Bahnfahrt zusammen schnorrte (weil wir keine Mark mehr hatten). Geh arbeiten, sagten sie zu meiner Freundin. Mir gaben sie nicht nur das geforderte Geld, sondern legten noch was drauf. Um den erbettelten Betrag ging sich für uns beide zusätzlich ein Mittagessen in einer Imbissstube aus. Meine Freundin war sauer, weil man mir das Geld anstandslos gegeben hatte und ich war enttäuscht, weil ich genauso ungewaschen und zerrissen aussah wie sie und man in mir trotzdem nur das brave Mädchen sah. Als wir mit unseren Schlafsäcken im Bus durch die Stadt gondelten, war ich diejenige, die von alten Damen gesprochen wurde, ob ich einen Platz zum Schlafen hätte. Dass ich gerne auch bei ihnen. Meine Freundin war die, die im Park die Punks und Kiffer kennen lernte und uns das coolere Nachtquartier besorgte. Wie gerne wäre ich gewesen wie sie. Mehr Punk und weniger damenhaft.
Eine Körperhaltung kann man sich nicht antrainieren. Gesten und Gesichtsausdrücke. Wir haben sie übernommen. Von denen, die wir täglich um uns hatten. Wenn ich eine Lade öffne, gehe ich in die Knie wie meine Mutter, mit einem leichten Wippen. Sagte mir einmal ein Mann, nachdem er meine Mutter kennengelernt hatte.
Ob ich sie als Kind stark an meinen Vater erinnert hätte und wie das für sie gewesen sei, frage ich meine Mutter, da ich im Spiegel täglich sein Gesicht sehe. An deinen Vater? Meine Mutter sieht mich erstaunt an. Nein, du hast mich an meine Schwiegermutter erinnert.
Ich stehe beim Abwasch. Singe dieselben Lieder wie meine Großmutter, vom Kurpfalz wohl an dem Rhein und vom weinenden Mariechen. Seit ihrem Tod kultiviere ich diese Verhaltensweisen. Lasse die Albernheiten meiner Großmutter in meiner Kunst weiterleben. Singe den Erzherzog Johann Jodler und mache mich mit einem lauten Juhuiii! über das Herzweh lustig.
Ich stehe vor dem Spiegel und kneife die Augen zusammen. Warte auf die Lachfalten. Meine Tante sieht meiner Großmutter ähnlich. Wer sie sieht, fragt mich, ob sie meine Mutter sei. Wir haben die gleichen Augen. Schweinsäugerl, sagt meine Großtante. M. hat dieseleben Lachfalten wie alle meine Verwandten hier. Dabei sieht sie ihrem Vater ähnlich, hat große braune Augen.
Lach doch einmal, sagten die alten Frauen in der Straßenbahn zu mir. Später fragten sie, warum ich so traurig sei. Ob ich Liebeskummer hätte. Heute sprechen sie mich nicht mehr an. Mit 37 wirst du nicht von Fremden angesprochen.
Lächeln Sie doch mehr, sagte mir eine Vorgesetzte.
Hutschpferdgrinsen. Das kannst du dir auch antrainieren. Hat mir einmal eine Psychologin gezeigt. Stell dich vor den Spiegel und lächle.
Ich übe. Stehe vor dem Spiegel und ziehe die Mundwinkel hoch. Kneife die Augen zusammen. Meine Lachfalten bleiben mir nicht. Habe keine Fächer in den Augenwinkeln wie die Großmutter sie schon mit vierzig hatte. Sei doch froh, sagen andere. Du schaust nicht aus wie 37, du hast noch keine Falten. Frage mich, warum sie alle so eine Angst davor. Und dass es doch nichts Schöneres gibt als diese Fächer.
© Margarita Kinstner, 13.4.2013