Familienaufstellung
In den letzten Tagen riecht es nach Kühen. Noch stehen sie nicht auf den Wiesen. Die Erde taut auf.
Warum ausgerechnet Judenburg? Warum nicht die Geschichte der sudetendeutschen Schwiegermutter? Warum nicht die Geschichte der anderen Großmutter? Ich weiß es nicht. Es gäbe so viele Geschichten. Jede Familie hat ihre Geschichten.
Wurzeln allein reichen nicht. Meine Wurzeln langen nach Mähren ebenso wie nach Kroatien. Wir sind ein Mischvolk. Das habe ich neulich auch einem Sänger gesagt, der von ich-weiß-gar-nicht-genau-woher kommt und gerade in Deutschland singt. Dass ihm das Österreichische mehr liege. Dass er in Köln seinen angelernten Wiener Akzent kultiviere, verrät er. Die Österreichische Sprache sei ihm sympathischer. Die Österreicher insgesamt.
Österreich und Deutschland. Das, was uns am meisten voneinander unterscheidet, sind unsere Familien. Mein Urgroßvater trug einen deutschen Vornamen – wie all seine Vorfahren, soweit der „Ahnenpass“ zurückreicht. Zurückreichen musste. Seine Muttersprache war dennoch nicht deutsch. Heute frage ich mich, was die Familie meiner Großmutter, die zum Teil auch die meine ist, ausmacht. Warum empfand ich die Familie meines Vaters – vor allem meine Großmutter und deren Geschwister – immer als so anders als meine Familie in Wien? Ich erinnere mich an warmherzige Großtanten und Großonkel. Wir Kinder waren der Mittelpunkt. Mussten nicht schweigen, wenn die Erwachsenen sprachen. Wir wurden geherzt, in die Wangen gekniffen, der Onkel zeigte Kunststücke. Geschenke bei jedem Besuch – ein rot-weiß getupfter Ball, ein Püppchen zum Anziehen ein vielfarbiger Buntstift. Die Großmutter sprang durch die Wiese uns spielte Federball. Die Großtante wurde nicht müde, immer wieder in das erste Stockwerk zu laufen um nachzusehen was da so poltere. Meine Kusine und ich schalteten das Licht aus und stellten uns schlafend. Und kaum, dass meine Tante B. wieder unten war, fing das Ganze von vorne an. Sie hat mitgespielt. Treppen rauf, Treppen runter.
Meine Großmutter in Wien war nicht weniger warmherzig. Aber sie war anders. Meine Großmutter in Wien hat meine Mutter erzogen, meine Mutter dann mich. Heute erkenne ich viele Parallelen. Ahne, wie wir werden was wir sind. Wie viel Englisch und Salomon stecken in mir. Von den Kinstners habe ich keine Ahnung. Eine Cousine meines Vaters schreibt an einer Familienchronik. Das erinnert mich daran, dass ich sie diesbezüglich kontaktieren wollte. Die Familie, die mir immer am nächsten war, war die meiner steirischen Großmutter. Jene Familie mit dem kroatischen Nachnamen: Pongrac.
Meine Wiener Großmutter hatte kaum Familie, da waren nur Kusinen, die wir in den Ferien besuchten, ein Nachmittag jedes Jahr. Ich war in den älteren Sohn verliebt, einen Sommer lang. Meine Großmutter sprach mit den Verwandten, als Enkelkind saß ich brav daneben und hörte zu. Oder spielte mit dem jüngeren Sohn. So wurde es von mir erwartet als Kind.
Die Familie meines Großvaters bestand aus Weinbauern. Im Haus meiner Großtante gab es ein Klavier, auf dem ich spielen durfte. Die anderen Verwandten, die weniger reichen waren, wie es hieß, hatten ihren Heurigen zwischen Wald und Wiese. Ich liebte die Natur und das Himbeerkracherl, das Klogehen dort hasste ich, denn die Brille war angepinkelt. Meine Mutter ging mit mir hinter das Klo, gemeinsam hockerlten wir uns in die Wiese. Der Onkel sprach eine Sprache, die ich nicht verstand, am Ende jedes Satzes fuhr seine Stimme in die Höhe, erinnerte an einen Hahn. Jahre später hätte ich seine Bräutigamführerin werden sollen, weil ich die einzig erwachsene „Jungfrau“ in der Familie war. Jungfrau, das hieß: ledig. Nach mehr fragte man nicht. Ich war Mitte 20, lebte in Wien und hatte von dem Brauch keine Ahnung. Ich war nicht zur Hochzeit gekommen, hatte nicht gewusst, dass man mit mir gerechnet hatte. Niederösterreich ist mir fremd. Dort musste ich eine Sprache sprechen, die nicht die meine ist. Musste meine Verwandten mit Worten begrüßen, die ich nicht herausbrachte. Meine Mutter wollte das so, übte mit mir. Griaß di und Pfiat di. Heute frage ich mich, ob sie mein „Hallo“ tatsächlich so beleidigt hätte. Ob man es mit der Höflichkeit in unserer Familie nicht manchmal übertrieb.
Familie. Was ist das? Warum fühlst du dich den einen um so viel näher als den anderen? Daran ändern auch 25 Jahre nichts. 25 Jahre – so lange habe ich (mit Ausnahme des Begräbnisses meiner Großmutter) meine Großtante nicht gesehen. Meinen Großonkel sah ich insgesamt vielleicht 6x als ich noch ein kleines Mädchen war. Als meine Großmutter beerdigt wurde, trauerte ich nicht nur um sie. Ich trauerte um ihre Geschwister, die ich nie wieder sehen würde. Meinen Onkel S., der mir beibrachte, wie man einen Bleistift zwischen Nase und Oberlippe einklemmt. Meine Tante B., deren Busen ich viel größer und weicher in Erinnerung hatte. Und dann gibt es Tante A, die ich nie gesehen habe. Die seit Jahrzehnten in Kanada lebt, die ich nur aus Erzählungen kenne. Und doch fühle ich mich ihr näher, als jenen, zu denen ich Griaß di und Pfiat di sagen musste. Tante A hat das gleiche Lachen wie meine Großmutter. Das sieht man auf den Fotos, die Schwester meines Vaters bestätigt meine Annahme. Dass sie jetzt Briefe nach Kanada schreibe, so wie meine Großmutter es 50 Jahre lang tat.
Zehn Geschwister. 3 davon starben bevor sie erwachsen wurden, 3 gingen nach Kanada, 4 blieben hier, im Aichfeld. Geschwister, die einander so eng verbunden und vertraut waren wie sonst selten in einer Familie. Die einander alles erzählten und alles verziehen. Vielleicht ist es doch das Kroatische, denke ich.
Neulich sprach ich mit einer Wienerin meines Alters, die nach Sarajevo zog. Für sie sei es nicht immer so leicht, sagt sie. Aber für ihren Sohn gäbe es keine bessere Umgebung. Dort werden Kinder anders wahrgenommen. Das ist nicht so wie bei uns. Die Kinder sind dort noch das wertvollste Glied der Gesellschaft.
Sarajevo. Judenburg. Schweiz. Wien. Graz. Kanada. Orte, von denen ich erzählt bekomme. Als Autorin kannst du dir nur erzählen lassen. Ein Besuch allein reicht nicht aus. Was bringen dir ein paar Fotografien? Es gibt Menschen und Schicksale, die gehen dir näher als andere. So und nur so entsteht der Stoff für Geschichten. Und dann hängst du ein paar Bahnen Papier an die Wand und entscheidest dich, welche der Geschichten du mit welcher anderen verknüpfst und welche du beiseite legst.
Dir gehen zu viele Blüten auf. Sagte mir mal einer, der gerne anderen beibringt, wie man schreibt. Aber wie kannst du einen Menschen erklären ohne die Menschen hinter und neben ihm zu zeigen? Wie eine Liebesbeziehung darstellen, in der nur zwei Menschen vorkommen? Wer ist Katja ohne Rosa, Grete, Magda und Albert? Und wer ist Albert ohne Martin und Kurt? Und wer ist Rosa ohne ihre 9 Geschwister und den kroatisch-bosnischen Vater?
Ich picke Post-its an die Wände und bringe sie in Beziehung zueinander. Und manchmal überraschen mich meine Protagonisten, indem sie plötzlich ganz woanders picken wollen, als ich vermutet hätte.
Meine Tante erzählt mir von Familienaufstellungen, die sie besucht. Ich habe an einer solchen noch nie teilgenommen, mir war das immer zu teuer. Aber wenn sie mir davon erzählt, denke ich: Genau das mache ich auch. Und das ist es, was mich interessiert. Nicht das Ziel, nicht der Ausgang. Sondern das, was sich dazwischen abspielt.
Manchmal hat es mit mir selbst zu tun. Mit mir und den bisherigen Begegnungen. Manchmal ist alles reine Phantasie. Ich nehme ein Kaleidoskop. So eines, wie mir mein Großonkel als Kind geschenkt hat. Ich drehe. Die Realtität zerfällt in bunte Splitter. Ich drehe weiter. Etwas Neues entsteht. Die Glasstücke sind dieselben. Die Figur ist eine gänzlich andere.
