Die geballte Kraft
Die Kraft ballt sich im Murtal, denn kräftig sind sie, die steirIschen Arbeiter. Gemeinsam ist der Aichfelder stark, und erst die Industrie macht das Murtal ganz. Deswegen steht auch der Vater hier und schleudert die Stimme dem Redner entgegen. Geballte Faust für die Ballung, auch der Vater ist einmal ein Bub gewesen, so wie sein Bub, um den es hier geht, denn die Kinder sind die Zukunft, aber wenn die Kinder gehen, gibt es bald keine Zukunft mehr.
Geh studieren, hat ihm der eigene Vater damals befohlen, weil er wollte, dass er nach Wien oder zumindest nach Graz geht und mit einem Titel wiederkehrt oder mit einem Titel dort bleibt – Hauptsache Titel.
Aber er ist geblieben, es hat ihn nicht fortgezogen wie die anderen. Der Vater hat sich durch die Oberstufe Gymnasium gekämpft, durchfallen und weiterkämpfen, viel Geld hat der Vater des Vaters ausgegeben für den Schulkollegen, der von der Burggasse zu ihnen hinausgeradelt ist um seinem Mitschüler das Englische und das Lateinische beizubringen. Aber dann hat der Vater doch nur in im Werk angefangen, trotz der erkämpften Matura ist er nicht zum Studieren in die Landeshauptstadt gegangen. Mit gesenktem Kopf ist der Vater des Vaters im Wirtshaus gesessen und hat sich von den anderen stolzen Vätern, die da mit geschwellter Brust von ihren Söhnen auf den Universitäten erzählt haben, ins Bier spucken lassen, während der Vater im Werk angefangen hat, als Fabriksarbeiter, wie schon der Vater des Vaters einer gewesen ist, ein Fabriksarbeiter, der für den Sohn jeden Groschen gespart hat, dass der es einmal besser hat, aber dann hat der Sohn das gute Leben einfach weggeworfen.
Das Werk, das war einmal ein großes, traditionsträchtiges Werk, ein verstaatlichtes Werk, mit rauchenden Schloten. Da bist du aus der Bahn ausgestiegen und hast gewusst, jetzt bist du dort, wo gearbeitet wird, so gestunken hat ’s.
Auf dem Bahnsteig sind sie gestanden, die zukünftigen Herrn Magister und Herrn Doktoren und haben dem Berg und dem Schlot zugewinkt. Alle, mit denen der Vater in die Schule gegangen ist, sind damals weg. Fast keiner ist dageblieben. Alle sind sie nach Wien und nach Graz und sogar nach Tirol hat es einen verschlagen. Viele haben studiert, manche haben das Studium abgebrochen, manche haben den Magister gemacht, zwei sogar den Doktor, während der Vater sich hinaufgearbeitet hat. Im Werk, da hast du eine Zukunft, und heute sogar noch mehr als früher, heute kümmern sie sich um die Jugend, wettbewerbsfähig muss man bleiben und schickt die Neuen sogar in die USA. Der Vater hat sich hinaufgearbeitet und heute ist er jemand. Wenn das der Vater noch erleben hätt dürfen, sagt die Mutter des Vaters, aber der Vatervater ist früh gestorben, der Kummerkrebs hat ihn hinweggerafft, weil der Bub nicht studiert hat wie die anderen Buben der Wirtshausgenossen. Hätt der Vatervater noch länger gelebt, hätt er gesehen, was aus den ehemaligen Schulkollegen des Vaters geworden ist. Der Peter, zum, Beispiel, der ist ja dann zurück mit seinem Magister und hat selbst in der Schule angefangen, als Lehrer, und während der Vater in der Fabrik das Sagen gehabt hat, während er die Untergebenen unterdrückt hat (deswegen heißen sie ja Untergebene, damit sie immer schön unten bleiben – aber wer fleißig ist, der bleibt nicht unten, der kommt selbst einmal hinauf), während also der Vater unterdrückt hat, ist der Peter unterdrückt worden, denn die Jugendlichen, die trauen sich jetzt was, das ist nicht mehr so wie damals, die lassen sich nichts mehr sagen, und Recht haben sie. Jetzt ist der Peter in Frühpension, Burnout, Dauerkrankenstand, Psychiatrie und aus, da sag noch einer, dass es ihm und den anderen das Studium was gebracht hat. Alle meinen sie, studieren zu müssen, heute noch mehr als damals, aber was hast du dann von deinem Studium? Ein Burnout kriegst du. Den Lehrern, den fehlt die Beschäftigung, sagt der Vater, die haben zu viel Zeit zum Denken. Das Denken, das tut der Psyche nicht gut, das sieht man am Peter. Immer ab 14h frei und dann die vielen Ferien und nichts zu tun. Kein Wunder, dass du da durchdrehst. Und jetzt, in der Frühpension, geht es ihm erst noch dreckiger, jetzt sitzt er im Wirtshaus und versäuft sein weniges Geld.
Und wenn er sich die anderen anschaut. Die haben auch kein besseres Leben. Er verdient nicht schlecht in der Fabrik, besser als so mancher, der damals weggegangen ist um zu studieren und das große Geld zu machen. Dort sitzen sie jetzt in den dunklen feuchten Wohnungen in der Wienerstadt, das kennt man ja aus dem Fernseher, alles grau in grau, und grausliche Leut sind das dort, die schimpfen in einer Tour. Und die armen Kinder wachsen dort auf, ohne Grün und ohne Liebe. Da hat es sein Sohn besser gehabt, der hat eine Freiheit erlebt, so eine kennt ein Wienerkind doch gar nicht. Und gefehlt hat es dem Buben auch nie an etwas, der Vater hat ja gut verdient im Werk, auch wenn es harte Zeiten gegeben hat, Zeiten, in denen er Angst gehabt hat, dass es jetzt aus ist, damals, als sie so viele Leute gekündigt haben. Aber der Vater hat Glück gehabt und dann hat er sich hinauf gearbeitet und jetzt ist er selbst der, der das Sagen hat und der mitbestimmt, wer bleiben darf und wer gehen muss. Heute, da musst du was leisten, und wenn du was leistest, dann bringst du es weit, und das ist auch gut so. Und der Bub, der wird auch einmal im Werk anfangen, denn das Werk bietet den jungen Leuten eine Zukunft, die ihnen eine Universität gar nicht mehr bieten kann. Heute sitzt du als Magister jeden Tag hinterm Computer und machst irgendeine Trottelarbeit, die jeder Sonderschüler erledigen kann, nur weil es keine Jobs mehr gibt für Akademiker. Als Ingenieur, da bringst du es heute weiter als als Doktor.
Deswegen steht er hier und ballt seine Faust für den Ballungsraum. Nicht, dass er den selbst brauchen würde, früher, da haben sich die Menschen auch nicht so zusammengeballt, da hat jeder für sich gearbeitet, aber für seinen Buben tut er es. Für seinen Buben und die Buben derer, die geblieben sind. Das ist nämlich so ein Teufelskreis. Damals, da hat es geheißen, dass es keine Arbeit mehr gibt und jetzt heißt es, dass des keine Jungen mehr gibt, dass die Industrie eingeht, dass ihr die Arbeitskräfte fehlen. Alle gehen sie nach Graz, in dieses Riesentreibhaus mit seiner Seegurke in der Mitte. Alles dümpelt und dumpelt dort, das ist doch nicht schön. Schön ist es hier schon, hier gibt es die Berge und eine frische Landluft haben sie jetzt auch. Anders als im Grazer Becken, wo sich der ganze Schmutz ansammelt. Sogar ein Bettelverbot brauchen sie dort, weit haben sie´s kommen lassen mit unserem schönen Land, denkt der Vater. Der ganze menschliche Unrat treibt sich in den Städten herum, das ist hier noch anders, bitte, werden auch hier immer mehr, die unsrigen gehen und die anderen kommen, und vor dem Billa, da sitzt neuerdings auch so einer rum, klimpert ein bisschen und streckt seine Mütze jedem braven Arbeiter entgegen. Was soll aus dieser Welt noch werden, da muss etwas geschehen, so darf es nicht weitergehen.
Der Vater, er ballt die Faust für die Kraft. Die geballte Kraft wird die Kinder hier halten. Gemeinsam sind sie stark, die Väter und Kinder der Industrie, deswegen stehen sie heute hier. Da gibt es kein du und kein ich, da muss es ein WIR geben. Gegen diese Ballung, da kann auch eine Stadt nichts ausrichten. Diese geballte Kraft werden sie dem Schicksal entgegen schleudern. Und auch der Vater schleudert seinem Sohn die geballte Kraft entgegen. Der Bub weiß nicht, was gut für ihn ist.
Wenn das der Vater noch erlebt hätt, sagt die Vatermutter, dass sein Enkerl einmal studieren wird.
Nix da, sagt der Vater, der Bub bleibt hier. Was hat der Vater schon für eine Ahnung gehabt. Er ist nicht studieren gegangen und gut war´s. Und der Sohn, der soll die Kraft erleben, die sich da jetzt zusammenballt. Morgen, Mama, sagt der Vater zur Frau, da wirst du unsere Kraft sehen.
Aber geh, sagt die Mutter. Morgen ist Fronleichnam. Da schlaf ma uns aus!
Nachtrag am 1.10.2013 : Der Text “Die geballte Kraft” ist soeben in der Literaturzeitschrift Driesch veröffentlicht.