Alles Klischee oder was?
In letzter Zeit unterhalte ich mich sehr viel mit anderen über Sprache, Landschaft und Charakter der Menschen. Wie sehr beeinflusst eine Gegend die Sprache? Und wie sieht es mit den Verhaltensweisen der ansässigen Menschen aus? Typisch Wiener, höre ich immer wieder. Aber was ist typisch Wienerisch? Das Grummelige, das Grantige, heißt es immer. Dabei sind die Zeiten des Hans Moser längst vorbei. Damals gab es ihn noch, den charmanten Grantler. Ein Phänomen, das der Tourist nach wie vor in den Wiener Kaffeehäusern sucht – meist ohne Erfolg.
Vor einem Jahr schrieb mir ein Bekannter aus Deutschland, er sei gerade in K. Dort gäbe es ein Wiener Gasthaus, mit echtem Wiener Schnitzel (also ohne Tunke) und einem richtig grantigem Kellner! Mein deutscher Freund war beglückt. Dort musst du unbedingt hinein, wenn du einmal nach K. kommst, schrieb er. Ich erinnerte ihn daran, dass ich in Wien wohne und froh sei, dem Original Wiener Kellner samt Wiener Schnitzel wenigstens im Urlaub entrinnen zu können.
Meine Tiroler Freundin L. ist vor einiger Zeit nach nach Wien gezogen. Sie erzählt mir am Telefon von ihren Beobachtungen, Erfahrungen und Fortschritten. Einen Wiener Kellner darfst du nicht freundlich ansehen, verrät sie mir. Am besten, du schaust in die Speisekarte, ignorierst ihn und gibst dann knapp deine Bestellung ab. Nur nicht freundlich anlächeln, bevor du das gemacht hast! Mit diesem Tipp versucht sie mir (Wienerin) zu helfen, als ich ihr erzähle, dass ich mit den Kellnern in einem der bekanntesten Kaffeehäuser der Josefstadt so meine liebe Not habe. War ich mit meinem Freund A., dem Ministerialrat (oh wie wird er mich für diese Aussage rügen!) in jenem Café, war alles kein Problem. Die Kellner scharwenzelten um unseren Tisch herum, plauderten, scherzten (das alles natürlich immer mit einer leicht angedeuteten Verbeugung), und wenn bei unserem Erscheinen keiner der Tische frei war, wurde sofort auf den prominenten Plätzen das „Reserviert“-Schild entfernt.
Was für ein Unterschied wenn ich alleine im Garten saß oder mich mit einer Freundin zum Plaudern traf. Da vergingen oft zwanzig Minuten bis ich zaghaft zu fragen wagte, ob ich vielleicht (aber nur vielleicht) etwas zu trinken haben dürfte. (Der Deutsche sagt: Ihr Wiener mit euren ewigen Konjunktiven. Seid doch nicht so verdammt unterwürfig!) Stieß meine Freundin in besagtem Café dazu, hieß es nach spätestens einer halben Stunde, dass der Tisch reserviert sei und wir bitte wechseln mögen. (Das Reserviert-Schild, das man zuerst für meinen Freund A. diensteifrig entfernt hatte, wurde nun – 3 Stunden später – wieder auf den Tisch gestellt, für den nächsten Stammgast.) Ich mag dieses Kaffeehäuser, in denen Männer mit Herr Magister (sie wussten von A.s Ministerialrat-Titel nichts) angesprochen und Frauen (außer eben jene Ministerialratswitwen die seit seit 40 Jahren ihr Mittagessen hier einnehmen) ignoriert werden, nicht.
Das Café L. in der Nähe des Burgtheaters kann mir ebenfalls gestohlen bleiben. Dort lecken sie einem beinahe die gewachsten Schuhe, wenn man nur anständig genug angezogen ist und auf wichtig tut. Aber wehe, deine Schuhe sind nicht gewachst und poliert!
Nein, die gute alte Wiener Kaffeehaustradition ist bei weitem nicht so charmant wie man meinen möchte. Ich bevorzuge freundliche Kellnerinnen, die alle Gäste gleich behandeln. Und wieso immer unter einem Kristallluster sitzen? Stattdessen empfehle ich allen Wien-Besuchern den Karmelitermarkt samt Leopoldsgasse. Man probiere zum Beispiel das „Fett und Zucker“, dort gibt es die köstlichsten Köstlichkeiten, und das sogar Bio. Getreidekaffee findet man dort ebenso wie Bananenbrot. Und „verkehrte“ Punschkrapfen. Die Einrichtung ist charmant, bestellen muss man vorne, aber die Getränke und Speisen kommen an den Platz. Die Besitzerin ist ist weder Kriechtier noch Grantscherm. Gegenüber, im TEWA, bekommt man den besten Tee und im Madiani ein gutes orientalisches Frühstück.
Auch das ist Wien, mehr vielleicht als die alten Kaffeehäuser, in denen sowieso nur Touristen sitzen. Trotzdem mag ich die Wiener Kaffeehauskultur. Das gemütliche Beisammensitzen, und ja, auch das Jammern und Grantigsein tut machmal gut. So sehr mir Wien auf den Nerv geht, wenn ich länger als einen Monat außer Landes (bzw außer Stadt) bin, merke ich doch: Der freundliche Singsang nervt, ich möchte jemandem gerne etwas richtig Gemeines an den Kopf werfen. In Graz, als sich zwei beim Aus- bzw Einsteigen in die Haare kriegten und einander mit „Du bleiiider Kraauuutschäiiiidl duu!“ beschimpften, dachte ich sofort: Wenn du zu deppert zum Schimpfen bist, solltest du es lassen.
Aber wenn ich in Wien bin. Da geht mir dieses Aggressive schon sehr aufs Gemüt. Und mit meinen Fast-37 denke ich : Vielleicht ist das mein Problem mit Wien. Dass ich mich hier nie so angenommen fühlte wie in der Steiermark (in Judenburg und in Graz).
Die Sprache hier (in Judenburg) ist hügeliger. Sanft, nicht kantig wie in den Tiroler Bergen, aber auch nicht so flach wie im Wiener Becken. Der steirische Akzent mag nicht der schönste sein, aber er drückt doch eine gewisse Gemütlichkeit aus. Um Steirisch zu sprechen, musst du den Unterkiefer lockern. Nichts für verspannte Gemüter also. Der Steirer ist eher phlegmatisch. Wie mein Vater. Wenn seine Frau ihn mit einer ihrer süditalienischen Schimpftiraden überschüttet, schenkt er sich sein Schnapserl ein. Und wenn sie das Glas mit einer theatralisch-neapolitanischen Geste auf den Boden fegt, steigt er über die Scherben, geht zur Vitrine und holt sich das nächste Glaserl.
Wie ist das jetzt mit der Sprache und dem Charakter? Seit ich hier bin weiß ich: Die Wiener sind reservierter. Klar – Großstadt und so. Aber liegt es nicht auch an der Sprache, dass mir die Menschen hier (vor allem die Frauen) um so vieles freundlicher erscheinen? Ich habe es ja schon einmal erwähnt: Die Judenburgerinnen singen. Intonation als wichtiger Aspekt der Sprache also. Mei – das ist ein Ausrufer, der hier oft verwendet wird. Mei!, wenn man sich erzählen lässt, von unglaublichen/unmöglichen Begegnungen. Ein langgezogenes Meeiiii! wenn man sich freut.
Und: liab. Das ist auch so ein Wort hier. Mit dem ich als Wienerin so meine Probleme habe. Liab, das ist doch sehr abwertend. Als meine Verwandte vor meinem Atelier stand und meine Textauszüge las, sagte sie 3x liab! Wenn ich dieses Liab nicht aus meiner Kindheit kennen würde, hätte ich protestiert. Ich hasse liebliche Texte. Vor meinem Atelier hängt ein Text über Abwanderung. Über Ausgrenzung. Das hat meiner Meinung nach nichts Liebes. Aber liab, das sagt man eben hier. Daran musst du dich in Judenburg gewöhnen. Wenn du dich schön anziehst, ist dein Outfit liab. Mit einem ganz langem i. Aber ist es nicht genau dieses liab, was die Judenburgerinnen wieder so liab und liebenswert macht? Da wirst du wieder zum Kind. Da streicht man dir mit einem Liab übers Haar. Ernst genommen fühlst du dich zwar nicht so ganz, aber geliebt. Wie ein kleines Kind eben. Als Wienerin, da bist du es gewohnt, um Anerkennung kämpfen zu müssen. Und da fällt mir ein: Die schönsten Lesungen sind immer die in Graz. Da kommen Wildfremde aus dem Publikum zu dir und sagen dir, wie eindringlich dein Text gewesen sei. Gott sei Dank habe ich in Graz noch nie ein Liab als Rückmeldung bekommen. In Wien musst du es als Kompliment nehmen, wenn jemand dir sagt: Ich wusste gar nicht, dass du so gut schreiben kannst. Da stehst du dann da und fragst dich: Aha, und was willst du mir jetzt damit sagen?
Aber ich schweife schon wieder ab. Oder auch nicht. Finde nur den passenden Anschluss nicht. So ist das mit Blogeinträgen, die in der Bahn entstehen – wenn du in Bruck in den Bummelzug wechselst und bis Knittelfeld fertig sein willst (Let´s Knittelfeld, Baby!).
Ein Südtiroler gestand mir neulich, er würde an den Wienern ihre Unentschlossenheit nicht aushalten. In Süditiol, da heißt es: machma? Und der andere antwortet Ja oder Nein. In Wien, da hieße es immer Vielleicht, da würde man in alle Richtungen schauen und sich nicht entscheiden können. Dass das mit der flachen Landschaft zu tun habe, ist seine Vermutung. Weil in Südtirol, da kannst du nur den Berg aufi oder obi, und wenn du den Berg rauf gehst, dann gibt es da nur einen Weg.
Meine Tiroler Freundin L. ist froh, den Bergen entronnen zu sein. Keine Sicht, eingekesselt. Sturheit?, frage ich sie. Vielleicht ja, sagt sie. Wenn du immer nur so eine Bergwand anstarrst, wie weit kommst du da mit dem Denken? In Wien starrst du Hauswände an, sage ich. Beton und nochmals Beton. Dazwischen Asphalt. Alles sehr trüb. Dass das hier das Feine sei, sage ich, die Landschaft rundherum. Das Grüne. Die Wiesen und Wälder. Und trotzdem kein Berg, der dir die Sicht versperrt. Die Berge hier sind ja nicht so hoch wie in Tirol. Die Tiroler, die lachen ja über den Zirbitzkogel.
Mit meiner Tiroler Freundin L. sprach ich neulich auch übers Bahnfahren. Über die Bewegung und das Pendeln zwischen 2 Orten. Dass ich die anderen (die vom Land nach Wien gezogen seien) immer darum beneidet hätte. Um dieses regelmäßige Rauskommen aus der Stadt. Dieses An-2-Orten-Leben.
Dass sie das sowieso nicht verstehe, verriet mir L. Dass so viele Wiener ihr Wien nicht verlassen. Als hätte da wer um Wien unsichtbare Mauern errichtet, durch die man nicht könne, sagt sie. Ich erinnere sie: Wenn deine Verwandtschaft in Wien wohnt (du also kein altes Kinderzimmer am Ländle beziehen kannst), fährt man nicht so leicht übers WE aufs Land. Denn das hieße: sich um ein Hotelzimmer kümmern müssen. Aber da sind dann am WE wieder alle Touristen, und Geld kosten tut es auch eine Stange. Die billigen Zimmer (Bauernhof, etc) liegen wiederum nicht an der Bahn. Ohne Auto bleibt man also dann doch meist in Wien.
Ah, sagt sie, aus dieser Sicht habe ich es noch nie gesehen. Aber dass die Wiener schon einen beschränkten Horizont hätten, weil sie eben nie aus Wien heraus kämen. Das mit der Bewegung, das hat ja was, das macht was mit einem. Movement. Verschiedene Eindrücke sowieso.
Das würde ich mir nicht antun, sagt mein Vater, dieses Bahnfahren. ÖBB und U‑Bahn, das sei doch das Letzte. Und will mich auf sein Motorrad zwingen. Dann hol ich dich ab und wir fahren zur Winterleiten rauf, und von dort gehen wir auf den Zirbitz, schlägt er vor. Zirbitz gut und schön, aber Motorrad? Die Autorin dieses Blogs hat Angst vor Geschwindigkeit auf 2 Rädern. Fährt auch immer ganz gemütlich mit dem Rad. Lieber erst um 12 zu Haus als um 11 im Krankenhaus. Sagte die Mutter meines Vaters. Nun habe ich die Oma als Kind wesentlich öfter gesehen als meinen Vater, darf er sich also nicht wundern, dass ich (wie er meint) ziemlich grün im Gesicht bin, wenn ich von seinem geliebten Bike steige. Was müssen Väter mit 50 auch zum Easy Rider werden? Mein Vater braust durch die Gegend und fährt zum jährlichen „Woodstock-Revival“ nach NÖ. Da fühlt er sich jung. Weil alt sein könne er im Tod auch noch. Und wenn er The Who nicht mehr hören könne, dann bliebe nur eins: Mit dem Motorrad irgendwo runter. Wie er das einmal machen wird, wird er wohl wissen, als 19jähriger ist ja er mit dem Auto die Waldböschung hier runter. Was ihm das Leben rettete: Er war nicht angeschnallt. Kein Wunder also, dass er von Gurten nicht viel hält. Gurte, die gibt es auf seinem Motorrad nicht.
Gut, werden Sie sagen, aber was hat das jetzt mit Sprache und Landschaft zu tun (bis auf die steile Böschung natürlich)?
Verzeihen Sie, ich habe gerade eine Riesenspinne in meinem Loft-Schlafzimmer entdeckt und bin nun nach der gezielten Tötung (mittels eines Badezimmereimers) recht durcheinander. Und muss an meine Tante denken, die eine wahre Spinnenphobie hat. Obwohl sie hier aufgewachsen ist. Also bitte, denke ich, gegen diese Dinger hier sind die Wohnungs- und Balkonspinnchen in ihrer Grazer Wohnung doch ein Klacks. Denke außerdem, dass ich vielleicht doch nicht so recht geschaffen für das Landleben. Dort, wo es nach Kuh riecht, sind die Spinnen eben größer, meinte L. lapidar, als sie am Telefon meiner Spinnenexekution beiwohnte.
Aber um wieder zum Thema Land/Sprache/Menschen zu kommen. Eine weitere Erfahrung, die L. mit mir teilte: Sie hätte als Tirolerin die WienerInnen als sehr neugierig und unverschämt empfunden. Und so redselig! Der Wiener fragt nach ihrem Beruf, sie gibt Antwort und wird prompt ins Kreuzverhör genommen. Heute wisse sie, dass es sich dabei um echtes Interesse handle, sagt sie. Dafür passiere es ihr jetzt, wenn sie nach Tirol fährt, dass man ihr nach ihren Erzählungen sagt: Das hättest jetzt auch in einem Satz sagen können.
Hm. Die Tiroler sind ja rechtschaffene Leut. Habe ich einmal gehört, von Tirolern selbst (Innsbrucker mit Stadthaus, gutbürgerlich). Als arbeitende, nichtstudierende Wienerin war ich da natürlich keine gute Partie für ihren Sohn. Weshalb ich diese rechtschaffenen Leute, die jeden Abend ihr Käsebrot verzehrten (um Geld zu sparen, wie es hieß) auch nie kennen lernte. Bischt a Tiroler, bischt a Mensch. Nein, das ist jetzt gemein. Es gibt ja Gott sei Dank auch Leite wie L. Oder T., eine andere Bekannte aus Tirol, die ist auch nicht so rechtschaffen, wie man von den TirolerInnen behauptet. Allerdings leben L. und T. in Wien. Hmmm, denke ich, dass ich vielleicht mal Tirol erforschen sollte. Mal schauen, ob es dort ein Aufenthaltsstipendium gibt. Und danach Burgenland und dann Vorarlberg und dann Oberösterreich.
Dass in Innsbruck in jeder Libro Filiale ein Andreas Hofer Buch in der Auslage lag, hat mich mit 22 doch ein wenig irritiert. Das wäre ja so, als würde in Wien überall der Liebe Augustin aufliegen, scherzte ich ziemlich laut. Und das auf offener Straße, in der Innsbrucker Innenstadt. Pscht, sagte mein Freund, wenn man dich hört. Ah ja, das waren keine rechtschaffenen Gedanken. Was mir in Osttirol wiederum auffiel: Auf jeder Hausmauer der sterbende Jesus. Totenkult also. Die christliche Religion ist ja meines Wissens nach die einzige, die als Symbol einen Sterbenden gewählt hat. Obwohl mir ein sterbender Jesus noch immer lieber ist als eine lebende Spinne. In Jesus war ich übrigens als Kind verliebt. Er hatte so schönes langes Haar und ich stellte mir vor, wie er auf seinem Esel in den Schulhof geritten kommt, ich vom zweien Stock in den Sattel springe (nicht, dass ich mich das getraut hätte) und wir gemeinsam in den Sonnenuntergang. Reiten. Nein – in die Mitttagssonne, der Unterricht endete ja um 12. Naja, und Jesus retten, vor dem Kreuz, das war sowieso eine fixe Vorstellung meines Kinderhirns.
Noch etwas, das uns also prägt: die Kirche oder eben das Nicht-in-die-Kirche-Gehen. Nachdem sich mein (Wiener) Großvater durchgesetzt hatte und ich getauft wurde, verbot mir meine Mutter 14 Jahre später den Firmunterricht zu besuchen. Schade. Im Firmunterricht hätte es Burschen gegeben – ich ging ja im Mädchengymnasium zur Schule. Und Uhren, die trug man damals auch noch. Später bin ich dann nicht aus der Kirche ausgetreten, weil ich glaubte, vielleicht einmal weiß heiraten zu wollen. Aber dann kam ich drauf, dass es dazu der Firmung bedürfte und später kam ich drauf, dass ich sowieso nicht heiraten wollte. Das Austreten kam mich reichlich teuer, ich musste den ausstehenden Kirchenbeitrag zurückzahlen.
In einer Woche bin ich bei der Firmung meiner Großcousinen eingeladen. Werde die ganze Verwandtschaft wieder sehen (Ritili, so nannte mich meine Tante M.). Meine steirische Familie ist übrigens recht redselig. Dagegen sind die Wiener schweigsame Menschen. Kann mir gar nicht vorstellen, dass man L. in iher Heimat vorwirft, zu viel zu reden – am Telefon bestreite ich 3/4 unseres Gesprächs. Meine Mutter sagte immer: Das hast du von meiner Schwiegermutter. Und die wiederum hatte es von ihrer Familie. Muss so sein, wir (Zweig Judenburg) reden alle viel und gern.
Die Sprache hier ist meine Heimatsprache. Die Mentalität die, die ich als Kind so gut kennen lernte und so liebte. Die Verwandtschaft väterlicherseits hatte es immer mit Kindern, da war man Mittelpunkt, da wurde übers Haar gestrichen, man wurde beschenkt und geherzt. Freue mich schon auf Tante M. und Großcousine C., mit der ich mich als Kind im Maisfeld verlaufen wollte – mit dem Kompass meiner Großmutter. Das war schon in Graz, das Maisfeld nicht sehr groß, das Verlaufen nicht so einfach. Heute stehen auf dem Grund eine Hofer Filiale und Genossenschaftswohnungen. Von dort sieht man direkt in den Pool meiner Tante A., die sich jetzt vor die Dusche einen Sichtschutz hat aufstellen lassen müssen. So ist das. Man hat ein Haus am Stadtrand, aber dann wächst die Stadt über den Rand hinaus.
Wiens unsichtbare Stadtmauern sind auch nicht so dicht, wie L. meint. Meine Mutter klagt, dass dort wo sie hingezogen sei (endlich ins Grüne) 300 neue Häuser gebaut werden sollen. Weiß gar nicht, warum es heißt, dass alle nach Wien ziehen, sagt sie, ich hab das Gefühl alle Wiener ziehen hierher. Also doch nix mit Nicht-aus-Wien-heraus-Kommen. Man sieht also: Man kann nicht aus allem ein Klischee machen. Nicht aus dem rechtschaffenen, kantigen Tiroler und nicht aus dem laschen, grantelnden Wiener. Nicht einmal den netten Judenburger gibt es überall, denn von einem weiß ich bestimmt, dass er so grantig ist wie man es uns Wienern nachsagt. Vielleicht empfinde ich ihn deswegen als „Original“, während die anderen hier sagen, er sei einfach nur unausstehlich. Denn das, was dem Wiener Kellner an Grant fehlt, findet man in seiner Person. Stellt einem grummelnd den Kaffee hin. A Wurst wollen´s eh net, oder?, fragte er, als er mir vor einem Jahr das Frühstück servierte. Äh, nein, sprach ich kleinlaut. Ich mag ja Marmelade ganz gern. Einen halben Tag später kam ich drauf, dass Karfreitag war. Am nächsten Morgen stand die Wurst kommentarlos auf meinem Frühstückstisch. Und als ich dem grantelnden Murtaler erzählte, wer mein Urgroßvater gewesen sei, blitze es sogar kurz in seinen Augen. Dass er ihm als Kind die Kupferkesseln zum Flicken gebracht hätte, verlor er sich in seinen Erinnerungen.
Heute habe ich jemanden, den ich vor einem Jahr hier kennen lernte, ein Hallo über die Straße zugerufen. Der Gute war völlig verwirrt. Seltsam, denke ich. In Wien hätte ich das nie und nimmer gemacht. Das ist auch etwas. Sprache und Charakter ändern sich blitzschnell, wenn du woanders bist. Vielleicht ist es das, was L. mit beschränktem Horizont meint, wenn du immer an einer Stelle bleibst. Da geht es nicht nur um die Bewegung in der Bahn oder neue Eindrücke. Da geht es vor allem darum, herauszufinden, was in uns steckt. Zum Beispiel der Mut, jemandem zuzurufen, die Straßenseite zu wechseln und in Kontakt zu treten.