SUCHT
(Aus­zug)

Mil­chig weiß lehnt sich der Novem­ber­ne­bel gegen die Fens­ter­schei­ben und kon­ser­viert Gedan­ken zwi­schen Stahl­be­ton­wän­den. Alles friert ein und steht still. Gery sitzt am Sofa, die Hei­zung im Rücken auf die höchs­te Stu­fe gedreht, und beugt sich über den nied­ri­gen Sofa­tisch. Mit einer rosa Bipa Bonus­card teilt er das wei­ße Pul­ver in zwei Lini­en, dane­ben leuch­tet der Bild­schirm des Lap­tops. Mit einem kräf­ti­gen Schnie­fen zieht Gery das Pul­ver hoch, legt den Kopf in den Nacken und fragt sich, was er die­ser Son­ja, deren Ant­wort vor sei­nen Augen leuch­tet, geschrie­ben haben mag, nach­dem er gegen fünf Uhr mor­gens mit hän­gen­dem Schwanz von den Por­no­sei­ten zu den Kon­takt­an­zei­gen gewech­selt hat.
Er klickt auf den Link am Ende der Mail und sieht sich Son­jas Sin­gle­pro­fil noch­mals an. Jetzt kann er sich wie­der an ihr streng zurück­ge­kämm­tes Haar und die enge wei­ße Blu­se erin­nern, die so gar nicht zu ihrem gro­ßen brau­nen Augen­auf­schlag pas­sen. Aber­mals ver­spürt er den Drang, tief in sie ein­zu­drin­gen und sie zu bear­bei­ten, bis ihr Haar zer­saust ist und die Blu­se zer­knit­tert, bis sich die erschro­cken bli­cken­den Augen schlie­ßen.
“Ich wer­de dir und mir den Tod aus dem Leib vögeln!”, schreit er hei­ser mit Blick auf den Bild­schirm und muss an sei­nen schlaf­fen Schwanz ein paar Stun­den zuvor den­ken, und an das resi­gnier­te Gefühl, dass es das gewe­sen ist. Er legt sich auf die Couch und dreht sich eine Ziga­ret­te. Tabak brö­selt auf sei­ne Brust, wie Mari­en­kä­fer auf einer Som­mer­wie­se krab­beln die gold­brau­nen Krü­mel zwi­schen sei­nen Brust­haa­ren. Gery leckt über die Naht und steckt sich die Ziga­ret­te zwi­schen die Lip­pen. Dann nimmt er ein Streich­holz und reibt den roten Kopf am Feu­er­strei­fen. Sieht der Flam­me zu lan­ge zu, ver­brennt sich dabei die Fin­ger­kup­pen und lässt das Zünd­holz fal­len. Die Flam­me erlischt, bevor das Streich­holz auf den Boden fällt.

Der Text – ein Aus­zug aus mei­nen Manu­skript “Mit­tel­stadt­rau­schen” – erschien in der Antho­lo­gie EXIS­TENZ UND RENI­TENZ,her­aus­ge­ge­ben von Chris­ti­an Schreib­mül­ler und Enri­co Kuscher, Wien 2011.

“der band betrach­tet wider­stän­dig­keit ver-schie­dens­ter aus­prä­gung – auch jene, die sich unbe­irrt ein­fach dem leben hin­gibt. mit bei­trä­gen von el awa­dal­la, theodo­ra bau­er, nad­ja bucher, judith pfei­fer, u.a.”