Bil­lig­con­tent Blues

Ich schaue mei­nem Mann ins Gesicht. Sei­ne Augen sind geschlos­sen, wir lie­gen im Bett, es ist kurz nach halb sie­ben. 
„Immer das­sel­be lang­wei­li­ge Ritu­al“, sagt er, als er die Augen auf­schlägt. „Auf­ste­hen, Kaf­fee­ma­schi­ne ein­schal­ten, Zäh­ne put­zen, Käse­brot essen, aufs Klo gehen, duschen, anzie­hen und in die Schu­he schlüp­fen.“
„Ich schlüp­fe mor­gens nie in die Schu­he“, sage ich. 

Manch­mal  sit­ze ich bis zur Mit­tags­zeit im Mor­gen­man­tel. Ich öff­ne das Fens­ter und set­ze mich auf das Fens­ter­brett. Rut­sche wie­der her­un­ter, gehe zum Schreib­tisch und zie­he die unters­te Lade mei­nes Schreib­ti­sches auf. Grei­fe bis ganz nach hin­ten, ertas­te die Ziga­ret­ten­pa­ckung. 
Ich bre­che unse­re Ver­ein­ba­rung. Mein Mann wird es ahnen, wenn er nach Hau­se kommt, er hat eine sen­si­ble Nase.

Unter unse­rem Fens­ter ste­hen die elek­tri­schen Flot­ten­fahr­zeu­ge der Post. Wenn ich auf dem Fens­ter­brett sit­ze, ste­hen eini­ge Ange­stell­ten unter mei­nem Fens­ter, rau­chen, reden und lachen. Sie sind gera­de von ihrer Tour zurück­ge­kom­men oder noch nicht los­ge­fah­ren. Ich rau­che zu ihnen hin­un­ter, sie rau­chen zu mir her­auf. In die­sem einen Moment habe ich das Gefühl, zu ihnen zu gehö­ren. Doch dann fällt mein Blick auf mei­nen Mor­gen­man­tel, auf den roten Frot­tee­stoff. Ich stel­le mir vor, was sie von mir den­ken. Arbeits­lo­se Schlam­pe, sitzt da unge­wa­schen im Fens­ter und glotzt zu uns her­un­ter.

Die Post­an­ge­stell­ten begin­nen um fünf. Um fünf Uhr schla­fen mein Mann und ich noch. Anfangs, als wir noch neu in der Woh­nung waren, sind wir von den hel­len Lich­tern auf­ge­wacht. Vom Rum­peln, wenn der ers­te LKW bela­den wur­de. Heu­te ver­schla­fen wir das Ein­schal­ten der Flut­lich­ter eben­so wie das Ver­la­den der Wer­be­pro­spek­te. Wenn die Streets­coo­ter zu sur­ren begin­nen, steigt mein Mann in die Schu­he. Es ist der Moment, auf den ich war­te. Sobald er die Woh­nung ver­las­sen hat, set­ze ich mich in Nacht­hemd und Bade­man­tel aufs Klo­brett. Lese bun­te Zeit­schrif­ten und blei­be eine hal­be Stun­de sit­zen. Danach wasche ich mir die Hän­de, rau­che aus dem Fens­ter und set­ze mich schließ­lich an den PC.

Nicht kli­cken, wenn du NICHT krea­tiv bist!

Ich kli­cke den­noch. Es ist kurz nach halb zehn. Für beson­ders krea­ti­ve Wer­be­tex­te bezahlt Her­bert aus Salz­burg einen Wort­preis  von 1,7 Cent. 
Ich kli­cke wei­ter. 

Ges­tern habe ich 80 Euro ver­dient. „Das ist mehr, als ande­re an einem Tag ein­neh­men“, sagt mein Mann. Er hat recht, ande­re schlich­ten Super­markt­re­ga­le ein, die ver­die­nen in einem Monat, was ich in zwei Wochen ver­die­nen könn­te. Zehn Stun­den Skla­ven­ar­beit für ein Unter­neh­men, das für die Tran­skrip­ti­on einer Audio­mi­nu­te 50 Cent bezahlt, brin­gen mir 80 Euro brut­to pro Tag. In  zwan­zig Tagen wären das 1.600 Euro. Gleich viel also, wie ich frü­her in der Kanz­lei ver­dient habe. War­um rege ich mich auf? Ich könn­te mir täg­lich die Kopf­hö­rer in die Ohren stöp­seln, ich müss­te nicht ein­mal mei­nen Mor­gen­man­tel able­gen. Vor­aus­ge­setzt natür­lich, es gibt genü­gend Auf­trä­ge. 
Heinz aus Deutschwa­gram ist zufrie­den, ich lie­fe­re flott und zuver­läs­sig. Alle sechs Inter­views habe ich an nur einem Tag abge­tippt. 160 Audio­mi­nu­ten, 80 Euro brut­to für zehn Stun­den Arbeit. Zehn Stun­den sinn­lo­ses Bla­bla, zehn Stun­den Hin­ter­grund­ge­räu­sche. Zehn Stun­den Geschirr­klap­pern, Kin­der­ge­schrei, Hub­schrau­ber, Sire­nen.

„Es gibt kei­nen per­fek­ten Job“, sagt mein Mann. Und dass es mir gut gehe, weil ich wenigs­tens kei­ne aggres­si­ven Schü­ler ertra­gen müs­se. Dass er auch gern zu Hau­se blei­ben wür­de, sagt er. 

Mein Mann ver­dient 80 Euro in nur drei Stun­den. Net­to. Mein Mann ist nicht reich. Ande­re in unse­rer Gas­se fah­ren Autos, deren Erhal­tung mehr kos­tet als wir ver­die­nen. Mein Mann kennt sich damit aus, er liest auf dem Klo das Jour­nal des ÖAMTC. Er weiß also ganz genau, wel­ches Auto wie­viel kos­tet und wie hoch der monat­li­che Ver­brauch ist. Dabei hat mein Mann nicht ein­mal einen Füh­rer­schein. 

Ich stel­le mich unter die Dusche. Vor­hin habe ich vier Auf­trä­ge ange­nom­men. Eine Pro­dukt­be­schrei­bung, zwei Tex­te für Landing­pa­ges, ein Blog­ar­ti­kel über vega­nen Käse­er­satz. Ins­ge­samt wer­de ich damit zwei­und­sech­zig Euro ver­die­nen. Abga­be­ter­min ist in vier­und­zwan­zig Stun­den, das schaf­fe ich. Nur mein Mann wird sich auf­re­gen, weil ich wie­der bis spät in die Nacht vor dem Com­pu­ter sit­zen wer­de. 
„Kannst du dir dei­ne Zeit nicht bes­ser ein­tei­len?“, wird er fra­gen.
Ich könn­te. Ich könn­te mich sofort, in der Sekun­de hin­set­zen, in sechs Stun­den wäre ich fer­tig. Danach könn­te ich die Tex­te bis zum nächs­ten Mor­gen lie­gen las­sen, sie dann noch ein­mal über­ar­bei­ten und abschi­cken. 
„Bei dem Preis musst du gar nichts über­ar­bei­ten“, sagt mein Mann. „Bil­lig­con­tent ist und bleibt Bil­lig­con­tent.“ 

Ich bin eine Bil­lig­con­tent-Schlam­pe. Ich ver­kau­fe mich für drei Cent pro Wort. Manch­mal auch für weni­ger.

Heinz aus Deutschwa­gram schreibt, er kön­ne mir statt 50 auch 60 Cent pro Audio­mi­nu­te zah­len. Ich leh­ne ab. Heinz wird wütend, ande­re sei­en dank­bar für die Auf­trä­ge, ande­re tipp­ten die Inter­views in Echt­zeit ab, da sei­en 60 Cent gutes Geld. Verarsch wen ande­ren, schrei­be ich zurück und ahne, dass ich nie wie­der einen Auf­trag von Heinz bekom­men wer­de. Kaum ist die E‑Mail weg, bereue ich es.
„Was bist du auch immer so stur?“, wird mein Mann sagen, wenn er nach Hau­se kommt und ich ihm von Heinz aus Deutschwa­gram erzäh­le, der mir gan­ze 10 Cent mehr pro Minu­te anbie­ten woll­te.

„War­um bewirbst du dich nicht wie­der als Kanz­lei­kraft?“, frag­te Syl­vie, als wir vor einer Woche wie­der mal mit­ein­an­der tele­fo­nier­ten. Syl­vie und ich waren Kol­le­gin­nen – zu einer Zeit, in der ich noch täg­lich in mei­ne Schu­he schlüpf­te und einen 13. und 14. Gehalt bekam.
„Ich war gleich dage­gen, dass du kün­digst“, sag­te Mut­ter. „Mit fünf­und­vier­zig kün­digt man nicht. Du hat­test doch einen guten Job! Immer dein ver­damm­ter Stolz. Das hast du jetzt davon.“

Mit fünf­und­vier­zig beginnst du zu ver­we­sen. Mor­gens riechst du aus dem Mund, du merkst es, wenn du dir die Hän­de wie eine Schüs­sel vor die Nase hältst und aus­at­mest. Am Mor­gen riecht man die Ver­we­sung beson­ders schlimm. Ich neh­me sie nicht nur bei mir wahr, auch bei mei­nem Mann. In letz­ter Zeit klagt er oft über Magen­schmer­zen. Er hat Angst davor, zum Arzt zu gehen. Ab fünf­und­vier­zig steigt die Wahr­schein­lich­keit, dass es etwas Schlim­mes ist, jedes Jahr über­pro­por­tio­nal.  

Mein Mann ist Leh­rer. Seit sein Bart mehr graue als dunk­le Stel­len hat, kichern die Mäd­chen nicht mehr, wenn er die Klas­se betritt. Er sei jetzt eine Respekts­per­son, sagt er. „Das musst du mal schaf­fen, als Musik­leh­rer eine Respekts­per­son zu sein!“ Mein Mann lacht, aber ich sehe ihm an, dass ihn sein grau­er Bart wurmt. Er nimmt jetzt öfters den Rasie­rer zur Hand. Danach steht er minu­ten­lang vor dem Spie­gel und hebt die wei­ßen Kopf­haa­re ein­zeln in die Höhe. Ich stel­le mir vor, wie er in zehn Jah­ren aus­se­hen wird. Mein Mann hat­te immer dich­tes, dunk­les Haar. Ich sehe ihn noch immer ger­ne an, sogar wenn wir strei­ten. Alle ande­ren vor ihm habe ich ver­las­sen, weil ich sie nicht mehr anschau­en konn­te. Nicht mehr anschau­en und nicht mehr rie­chen. 

„Wie­so muf­feln wir so?“, frag­te mein Mann neu­lich, als er die Wäsche sor­tier­te. Die Wäsche ist sei­ne Sache. Das Wäsche­wa­schen hat er sich nicht neh­men las­sen, als wir vor sechs Jah­ren zusam­men­ge­zo­gen sind. Mein Mann macht auch die Küche sau­ber, er räumt den Geschirr­spü­ler ein, putzt die Bade­wan­ne, saugt die Böden. Er kön­ne das bes­ser als ich, meint er. Mir über­lässt er das Ein­kau­fen und Kochen.
„Alle zehn Fin­ger kannst du dir abschle­cken, dass du so einen bekom­men hast“, sagt Mut­ter.

Ich log­ge mich in mein Bank­kon­to ein. Das Fit­ness­cen­ter, des­sen Blog und Face­book­sei­te ich betreue, hat mir 500 Euro für ein neu­es Text­pa­ket über­wie­sen. Bis jetzt habe ich Tex­te im Wert von 300 Euro abge­lie­fert. Und was, wenn ich mor­gen ster­be? Oder auf­hö­re? Ich könn­te mich ein­fach wei­gern, neue Arti­kel zu schrei­ben und das Geld behal­ten.
Ich wechs­le zur ORF TVthek. Mein Mann weiß nichts von mei­ner täg­li­chen Sucht, dage­gen ist das Niko­tin, das ich inha­lie­re, noch harm­los. Ich sehe mir Erd­be­ben­op­fer und zer­bomb­te Städ­te an. Vor­ges­tern gab es in Öster­reich wie­der einen Femi­zid und in Bang­kok hat ein Teen­ager 3 Men­schen erschos­sen. Der Bun­des­kanz­ler emp­fiehlt allen Frau­en, die zu wenig Geld haben, mehr zu arbei­ten und ihre hung­ri­gen Kin­der zu Mc Donald’s zu schi­cken. 
Ich trin­ke Kaf­fee und wechs­le zu einer ande­ren Media­thek. Ein jun­ger Mann spricht vom Kli­ma­wan­del. Sei­ne Nase ist mit schwar­zen Punk­ten über­sät. Dass man den auch bes­ser hät­te schmin­ken kön­nen, den­ke ich. Der Mann mit den schwar­zen Punk­ten auf der Nase spricht von der Ver­ant­wor­tung gegen­über der jun­gen Gene­ra­ti­on und schaut ver­zwei­felt in die Kame­ra. 

„War­um haben Sie eigent­lich kei­ne Kin­der?“, frag­te der Notar, in des­sen Büro ich arbei­ten woll­te. Ich saß ihm gegen­über, klas­si­sche Vor­stel­lungs­ge­spräch-Situa­ti­on. 
„Und wie­so haben Sie Kin­der?“, frag­te ich ihn. 
Obwohl es vor­ab hieß, dass ich die bes­ten Bewer­bungs­un­ter­la­gen geschickt hät­te, bekam den Job eine ande­re. Eine, die nett lächel­te, eine, die kei­ne zyni­schen Bemer­kun­gen raus­würg­te. Ich pas­se nicht an einen Emp­fang. Es war eine gute Ent­schei­dung die Acht­und­zwan­zig­jäh­ri­ge mit dem harm­lo­sen Lächeln zu neh­men.

Am Abend sitzt mein Mann auf dem Klo und rech­net nach. Als er in die Küche kommt, hält er mir das ÖAMTC-Jour­nal unter die Nase. „Eine Bom­be soll­te man unter die­se SUVs legen“, sagt er. „Das wür­de mehr brin­gen, als sich auf der Stra­ße fest­zu­kle­ben.“ 
Ich schä­le Kar­tof­feln und Karot­ten. Mein Mann setzt sich an den Küchen­tisch und erzählt mir von Schü­lern, die ihre Joints vor ihm ver­ste­cken, wenn er im Park an ihnen vorb­über­geht. 
„Dabei fin­de ich Joints gar nicht schlimm“, sagt er. „Die Kif­fer sind harm­los, die prü­geln sich wenigs­tens nicht und auch kei­ne ande­ren.“
Sei­ne Nar­be ist kaum noch sicht­bar. Die Nar­be knapp unter dem Haar­an­satz. Zehn Mona­te hat er gebraucht, bis er sich wie­der auf die Stra­ße getraut hat. 

Sie sind zu dritt gewe­sen. Drei halb­star­ke Neun­zehn­jäh­ri­ge. 
„Du mie­se Schwuch­tel!“, haben sie geschrien. Und dann haben sie hin­ge­dro­schen. 

Mein Mann trägt sein Haar schul­ter­lang. Das kommt in einem Sport­gym­na­si­um nicht gut an – vor allem nicht, wenn du oben­drein Musik­leh­rer bist. 
Die Kin­der gal­ten als talen­tiert. Die Zukunfts­hoff­nung der Gemein­de. Heu­te spie­len zwei von ihnen in der Natio­nal­mann­schaft. Dass sie ihren ehe­ma­li­gen Leh­rer ver­prü­gelt haben, hat im Ver­ein damals nie­man­den inter­es­siert. Dort, wo wir frü­her wohn­ten, gal­ten ande­re Regeln. Wer gibt schon einen Vie­rer in Musik? Noch dazu, wenn er weiß, dass die Schü­ler bru­tal sind und die Eltern stink­reich, mit Ein­fluss in der Gemein­de? Selbst schuld, hieß es da.

Mein Mann wur­de genäht. Zwei Mona­te spä­ter lan­de­te er in der Neu­ro­lo­gie. Als er wie­der her­aus­kam, erstat­te­te er Anzei­ge.  Mein Chef leg­te mir nahe, auf Urlaub zu gehen, einer der Väter war sein Kli­ent. […]

wei­ter­le­sen in:
Tex­te 5
“satt“

mit Bei­trä­gen von 22 Schriftsteller*innen
Hg. von Ger­not Rag­ger
der wolf ver­lag, 2024
ISBN: 978–3‑903354–48‑7

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