“Die alte Simon”

Er bleibt vor der Tür sei­ner Nach­ba­rin ste­hen und schaut auf das Mes­sing­schild. Im Flur riecht es nach Putz­mit­teln. Dass die­se Mit­tel in jedem Haus gleich rie­chen, denkt er, als wür­de es eine spe­zi­el­le Putz­mit­tel­mar­ke für Stie­gen­häu­ser geben. 
Das Licht geht aus. Er macht drei Schrit­te nach links und schal­tet es wie­der an.
Und was, wenn sie ein­fach nur ver­reist ist? Aber wohin soll­te eine alte Frau wie die Simon schon rei­sen? Nach Kana­da?
Er erin­nert sich an sei­nen Ein­zug. Wie er vor sei­ner Woh­nungs­tür gestan­den hat, mit dem Schlüs­sel in der Hand und einer blau­en Ikea-Tasche in der ande­ren.
»Sind Sie der neue Mie­ter?« Die Alte war plötz­lich hin­ter ihm auf­ge­taucht. Als er sich umdreh­te, stell­te sie sich ihm mit wackeln­dem Kopf vor. »Ich bin Her­ta Simon. Ihre Nach­ba­rin.«
»Micha­el Mal­nik«, sag­te er.
Sie kicher­te. »Was für ein klin­gen­der Name.« Ihr Kopf mach­te ihn ner­vös. Und dann sprach sie den Satz aus, der ihn damals so geär­gert hat. »Ihre Vor­mie­ter waren net­te Men­schen. Haben mir immer Mine­ral­was­ser mit­ge­bracht, wenn sie zum Ein­kau­fen gefah­ren sind.«
»Ich hab kein Auto«, hat er nur knapp geant­wor­tet.
»Ach so.« Sie hob ent­täuscht die Schul­tern. »Naja. Kann man nichts machen. Dann werd ich wohl wei­ter­hin die Sod­a­kap­seln ver­wen­den müs­sen.«

Jetzt legt er sein Ohr an ihre Tür. Noch immer hört er kein Geräusch. Er drückt auf die Klin­gel, so, wie er es schon am Vor­tag getan hat. Und was, wenn sie öff­net? Soll er so tun, als wür­de er wie­der eine Brief­mar­ke brau­chen? Oder soll er zuge­ben, dass er sich Sor­gen um sie gemacht hat? Viel­leicht wür­de sie sich sogar dar­über freu­en. Dass er sich Gedan­ken macht. Dass sie ihm nicht egal ist.
Fast vier Jah­re ist es jetzt her, dass er wegen der Brief­mar­ken bei ihr geläu­tet hat. Sams­tag­abend und er hat ganz genau gewusst, dass er am Mon­tag nicht mehr den Mut haben wür­de, eine Brief­mar­ke zu kau­fen, um den im Rausch ver­fass­ten Lie­bes­brief an Lydia zu schi­cken. Die Simon hat die Tür nur einen Spalt­breit geöff­net. Auf ihren Haa­ren schim­mer­te ein Haar­netz, als hät­te sie schon geschla­fen, dabei hat­te sie noch Blu­se und Rock an. Außer­dem hat er ihren Fern­se­her gehört.
»Ja bit­te?« Sie hat ihn ver­wun­dert ange­se­hen.
»Haben Sie viel­leicht eine Brief­mar­ke?« Sei­ne Stim­me klang piep­sig, wie damals, als er die Fens­ter­schei­be vom Schup­pen ein­ge­schla­gen und der Vater ihn gezwun­gen hat, sich beim Nach­barn zu ent­schul­di­gen.
Die Simon lächel­te ihn an. Sag­te nicht: Was wol­len Sie um die­se Zeit von mir, war­um gehen Sie nicht am Mon­tag zur Post und holen sich dort eine Mar­ke? Statt­des­sen wink­te sie ihn ins Vor­zim­mer und begann in der unters­ten Schub­la­de einer alten Kom­mo­de zu kra­men, die gleich gegen­über der Ein­gangs­tür stand.
»Seit es in der Tra­fik kei­ne Mar­ken mehr zu kau­fen gibt, hab ich immer wel­che zu Hau­se.« Er starr­te ihr auf den brau­nen Rock und stieg unge­dul­dig von einem Bein aufs ande­re, bis sie end­lich eine schma­le Leder­map­pe her­vor­zog. Als sie eine der Mar­ken für ihn her­aus­hol­te, wackel­te ihr Kopf wie immer unkon­trol­liert. »Die ist zwar fürs Aus­land, aber über­fran­kie­ren darf man ja.« Sie kicher­te. »Wis­sen Sie, ich hab eine Schwes­ter in Kana­da. Wir schrei­ben uns alle vier­zehn Tage. Das machen wir seit sech­zig Jah­ren.«
Als er sich umdreh­te, ver­fing sich sein Blick in einer Schwarz­weiß­fo­to­gra­fie: ein jun­ger Mann mit einer alt­mo­di­schen Flie­ger­müt­ze auf dem Kopf . 
»Mein Mann war Hob­by­flie­ger. Hat ihm das Leben gekos­tet« Die Simon seufz­te. »Ist lang her.«
Er hat nicht nach­ge­fragt, wann und wo genau. Er hat auch nicht gesagt, dass es ihm Leid tut. Er wuss­te ja nicht ein­mal, ob es der Simon selbst Leid getan hat­te. Er bedank­te sich für die Mar­ke und trat hin­aus in den Flur.

Zwei Tage spä­ter stand er mit einer gekauf­ten Brief­mar­ke vor ihrer Tür. Sie nahm sie ent­ge­gen, mur­melnd, dass das nicht nötig sei. Dann frag­te sie ihn unver­mit­telt: »Ist das eigent­lich Ihre Gitar­re, die man jeden Tag hört?«
Er zuck­te zusam­men. »Stört es Sie?« Sofort ärger­te er sich, dass sei­ne Stim­me wie­der die­sen Pieps­ton annahm. Alte Vet­tel, dach­te er, dein Fern­se­her brüllt den gan­zen Tag zu mir rüber!
»Ich hör Ihnen gern zu«, sag­te sie. »Sie spie­len schön, Sie soll­ten etwas aus Ihrem Talent machen!«

Jetzt ist es in ihrer Woh­nung still. Drei Mal hat er schon geläu­tet, aber nichts rührt sich. Und was, wenn sie gestürzt ist? Wenn sie hilf­los im Wohn­zim­mer liegt und nicht auf­ste­hen kann?

wei­ter­le­sen in > der nreu­en Aus­ga­be von “DUM – Das Ulti­ma­ti­ve Maga­zin”.