Der erste Abend. Sitze in der Baščaršija und laufe durch das Viertel. Esse Cevapi, denn das muss man in Sarajevo. Meine Gastfamilie zieht KM (Konvertmark) dem Euro vor, also mache ich mich auf die Suche nach einem Bankomat. Viele Hunde vor den Mülltonnen. Ich erinnere mich an die Berichte und Dokumentationen. Dass die Haustiere während der Belagerung ausgesetzt wurden. Die Menschen hatten nichts zu essen, nicht für sich, nicht für die Tiere. Die vielen Straßenhunde in Sarajevo – noch immer eine Folge des Krieges. Früher gab es das nicht.
Sarajevo. Im Abendlicht, bei Nacht. Sarajevo am Morgen. Der erste Kaffee, wieder in der Baščaršija. Ich spaziere zwischen den Häuserzeilen hinauf. Da sind Kinder, die Bälle gegen Hauswände prellen. Vorgärten. Kleine Häuschen zwischen grauen Wohnblöcken. Die alte Frau beim Greißler. Männer, die in stiller Übereinkunft nebeneinander sitzen und Kaffee trinken. Die Minarette und die Kirchtürme.
Du hast noch nicht alles gesehen, sagt Murat. Schau dir Sarajevo im Nachmittagslicht an, geh die Miljacka entlang. Dort sieht man unserer Stadt ihre traurige Vergangenheit an jeder Ecke an.
Also gut, ich gehe. Murat hat recht. Die Stadt liebt am Abend und weint bei Tag. So viele Gefühle überfallen mich hier. Natürlich – ich bin nicht unbefangen. Aber das ist privat.
Am Abend sitze ich das erste Mal auf Belmas Bank. Pölster im Rücken, schwarzer, süßer Kaffee. Murat klemmt einen Melassewürfel zwischen die Zähne. Du musst den ersten Schluck durchziehen, sagt er. Ich mache es ihm nach – dabei habe ich noch nie gerne Zuckerwürfel zerbissen. Den Würfel in der kleinen Schale zergehen lassen, das gefällt mir besser. Ich mag süßen Kaffee, das erste Mal schmeckt er mir schwarz. Er ist sämig, legt sich um die Zunge. Wir schenken uns nach, immer wieder.
Worüber haben wir gesprochen in unserer ersten gemeinsamen Nacht? Wir haben uns so oft und so lange unterhalten, Belma und ich. Ins Bett gingen wir nie vor zwei, manchmal wurde es sogar vier. Belma erzählte mir von ihrer Zeit in Deutschland. Das war nach den Jahren, in denen sie im Kessel hier eingesperrt gewesen war. Ich muss sie nicht fragen, sie erzählt von allein. Ich werde ihre private Geschichte nicht erzählen – sie gehört ihr. Aber soviel darf man wissen: Drei Jahre lang hat sie sie Wasser geholt und Feuerholz gesammelt. Als die ersten Granaten die Stadt trafen, war Belma 20 und hatte gerade zu studieren begonnen. Sie zeigt auf die Glasscheibe in meinem Rücken. Hier herein hat man gut zielen können, von den Bergen aus, sagt sie. Ihre Schwiegereltern und sie siedelten ins Untergeschoss – es ist der Teil, der heute an Touristen vermietet wird.
Ich habe Glück. Belma lässt mich an ihrer Welt teilhaben. Erzählt von ihrer Kindheit, als Tito noch lebte. Belmas Sichtweise ist eine, die mich überrascht. Haben wir ihn nicht vom scheußlichen Diktator kennengelernt? Habe ich nicht von Goli otok gelesen?
Belma sieht das anders. Unsere Eltern haben sich keine Sorgen machen müssen, wie sie die Bildung ihrer Kinder finanzieren – und ob sie danach einen Job bekommen. Und die Meinungsfreiheit? Manches bleibt besser ungesagt, sagt Belma.
Meine Gastgeberin erzählt von ihrem Sohn, der in Deutschland geboren wurde. Der auch nach Deutschland zurückging, nach dem Gymnasium, weil es dort Arbeit gab. Der dann doch wieder nach Sarajevo kam, weil er das Leben in Deutschland genauso wenig aushielt wie sie, Belma.
Ihr westliche Frauen, ihr wisst doch gar nicht mehr, was wichtig ist, sagt Belma. Ihr springt vom Pyjama ins Arbeitsgewand und kommt spätabends ausgelaugt und müde nach Hause. Eure Kinder verbringen den ganzen Tag im Kindergarten und eure Ehen gehen in die Brüche, weil beide Partner gestresst und todmüde sind und nur mehr vor dem Fernseher hängen.
Belma hatte in Deutschland eine gute Stelle in einer Notariatskanzlei. Ihr Mann verdiente ebenfalls gut – besser als hier in Sarajevo. Dennoch entschieden sich die beiden, in ihre Heimatstadt zurückzukehren. Oder besser: Belma entschied. Sie traf die Entscheidung, als sie das zweite Mal schwanger wurde, weil ihr Sohn sie jedes Mal mit verweinten Augen im Kindergarten erwartet hatte.
Belma und Murat kamen also zurück. Heute wachsen in ihrem Garten Tomaten, Zucchini, Gurken, Kartoffeln, Minze und andere Kräuter. Belma setzt Melissen-Ingwer-Saft an, den sie in Colaflaschen einfriert. Das Leben in Sarajevo mag für uns Österreicher billig sein – Belma muss das Geld zusammenhalten. Murat verdient regelmäßig, das ist hier viel wert.
Dass sie mich jeden Tag zum Essen in ihr Wohnzimmer einladen, ist für Belma selbstverständlich. Wir sind jetzt Freundinnen, sagt sie.
Ich überlege mir, wo ich am Ende meiner Reise ein Kuvert hinlegen könnte. Ohne dass Belma sich angegriffen fühlt, ohne dass es in die Hände meines Nachmieters fällt.