Fahrt von Graz nach Belgrad – 3./4. Mai 2019
Dass der Hitler nicht so schlecht gewesen sei, sagt er. Dass der, wenn es ihn heute noch gäbe, nicht alle hereinlassen würde. Dass der ganz anders umgegangen sei mit den Migranten als wir heute. Dass wir in Österreich jetzt endlich eine gute Regierung hätten. Eine bessere als zuvor.
Er beißt in seinen Apfel, in einen der vielen Äpfel, die er mithat, und die am Ende durch den Wagen kullern werden. Einen von ihnen werde ich aufheben und auf den Sitz legen, kurz bevor ich als Letzte aus dem Sammeltaxi klettern werde.Jetzt hält der Mann, der neben mir sitzt, die Kälte von mir fern. Er presst sein Bein gegen das meine, die Haut seines Arms berührt meine Haut. Ist dir kalt?, fragt er. Nein, schüttle ich stumm den Kopf und ziehe demonstrativ die Decke aus meinem Rucksack.
Der Mann, der neben mir sitzt, schüttelt den Kopf. Nicht wegen der Decke. Dass er es nicht glauben könne, was ich da eben gesagt hätte, meint er. Sechs Millionen ermordete Juden? Wo ich das gehört hätte. Wer mir das erzählt hätte. Wie ich den Schwachsinn glauben könne. Woher hätten die Deutschen denn das viele Gas nehmen sollen? Von den Russen?
Wir fahren durch die ungarische Nacht. Der Mann, der neben mir sitzt, röchelt im Schlaf, vor ihm reibt sich der Chauffeur die Augen. Die Fahrgäste im Fonds – drei Frauen, Altenpflegerinnen, die das Taxi in der Südsteiermark eingesammelt hat – wollen es beim Schlafen warm haben. Der Ventilator bläst warme Luft aus, der Fahrer gähnt und trinkt und zwinkert gegen das Gebläse an. Auf dem Wagenboden kullern die Äpfel von einer Seite zur anderen.
Ich bleibe wach, während alle anderen schlafen. Ich richte meinen Blick auf den Fahrer, gebe Acht, dass seine Augen offen bleiben. Er ist schon seit Stunden unterwegs, zu viele Stunden sind es sowieso immer, heute sind es noch mehr, wegen des Streiks an der serbisch-ungarischen Grenze. Sechs Stunden im Stau, die ihm seinen Mittagsschlaf raubten . Am Nachmittag klingelte mein Handy, wir fuhren mit vier Stunden Verspätung ab.
Der Fahrer fährt in Schlangenlinien und reißt immer wieder die Lider hoch, die ihm schwer werden. Als er das Fenster hinunter kurbelt, meckert eine der Frauen im Fonds, ihre Stimme klingt wie das Gackern eines Huhns, das gejagt wird. Als Kind habe ich gerne die Hühner gejagt.
Der Fahrer schließt das Fenster und seufzt, hält sich mit beiden Händen am Lenkrad fest, als hätte er Angst, umzukippen. Zwanzig Kilometer weiter fährt er zur Seite, parkt den Wagen am Straßenrand, steigt aus. Die Tür lässt er offen stehen. Ich frage mich, wohin er jetzt geht, hier, mitten in der ungarischen Pampa, wo es keine einzige Straßenlaterne gibt. Vielleicht schnappt er frische Luft, vielleicht muss er pinkeln. Vielleicht aber haut er auch einfach ab, über die Felder, irgendwohin, wo das Leben einfacher ist.
Der Mann neben mir wacht auf. Ob mir kalt sei, fragt er und warum die Tür offen stehe. Wo der Fahrer sei. Wo wir seien.
Im Fonds beginnt wieder das Hendel zu kreischen.
Wir stehen an einer Tankstelle. Der Chauffeur isst ein Sandwich, der Mann, der zuvor noch neben mir saß, stellt sich hinter der großen Scheibe des Tankstellenshops an der Kassa an. Als er zurückkommt, hält er mir eine Flasche Wasser entgegen. Ich solle trinken, befiehlt er, Trinken sei wichtig.
Wir passieren die Grenze. Der Mann, der neben mir sitzt, hält mir sein Handy hin. Ich solle meine Bekannte anrufen und ihr sagen, dass wir in anderthalb Stunden in Belgrad sind. Mit seinem Handy sei es billiger als mit meiner österreichischen Sim-Karte. Er muss vorhin, als ich S. von Slowenien aus anrief, mitgehört haben. Als ich sage, dass ich S.’ nicht von seinem Handy aus anrufen will, weil er dann ihre Nummer hätte, lacht er mich aus. Ihr und eure komische Datenschutz-Verordnung, sagt er. Warum wir hier so streng seien, wo wir doch tausende Fremde in unser Land ließen ließen, egal, ob die sich ausweisen könnten oder nicht. Ihr wollt eure Daten, die sowieso jeder hat, schützen, aber euer Geld gebt ihr allen?, fragt er. Neunhundert Euro fürs Nichtstun. Das wisse er, weil seine Freundin in Graz wohne. Die habe es ihm erzählt. Er kenne sich aus, im Gegensatz zu mir, die ich nicht einmal wisse, wie hoch so eine Mindestsicherung sei. Du hast keine Ahnung, sagt er, weder vom Leben noch von den Grenzen. Sein Freund arbeite an der Grenze, ganz unten, dort, wo jetzt alle nach Europa wollten.
Soll ich dir was sagen, sagt der Mann, der neben mir sitzt. Die bewegen sich nicht wie Bauern. Die bewegen sich wie Soldaten. Und dass uns das klar sein müsse. Die kommen nicht, weil sie vom Krieg flüchten, die kommen wegen der 900 Euro zu euch.
Er raschelt mit seiner Chocolat Chip Cookie-Schachtel. Es ist die Sorte Chocolat Chip Cookies, die ich besonders gern mag. Trotzdem schüttle ich den Kopf, als er sie mir unter die Nase hält.
Das haben die Leute damals auch gesagt, sage ich stattdessen.
Wann, damals, fragt er.
Als es bei uns das Volksbegehren gab, sage ich. Während des Bosnienkriegs. Dass man die Bosnien damals genauso wenig wollte wie die Serben und die Türken, egal ob Flüchtling oder Gastarbeiter. Die Tschuschen, haben sie gesagt, sage ich.
Jetzt glotzt er. Das hat er mir nicht zugetraut, dass ich so gemein sein kann. Aber wenigsten hält er jetzt seine Nazifresse.
Rechts von mir die Lichter der Stadt. Der Mann, der neben mir sitzt, reicht mir sein Handy. Ich hab Besseres zu tun, als fremden Frauen hinterdreinzutelefonieren, sagt er. Komm schon, du wirst doch jetzt nicht drei Euro zahlen nur wegen diesem blöden Datenschutzgesetz, das hier sowieso keiner kennt.
Ich wähle S.’ Nummer. Der Mann, der neben mir sitzt, beißt in einen Apfel. Der Saft spritzt bis zu mir herüber und bleibt hängt mir im Augenwinkel hängen. Ich sage S., dass wir uns Belgrad nähern. Dann lege ich auf und schaue aus dem Fenster. Die Donau ist hier doppelt so breit als in Wien.