Weil wir alle kei­ne Vögel sind …

4:30: Der Wecker zwit­schert. Drü­cke die Spä­ter-Tas­te. Ins­ge­samt 3 Mal. Dann piepst der zwei­te Wecker. Erin­nert mich an frü­her. Als ich in einem Alter war, in dem mei­ne Freun­de und Freun­din­nen stu­dier­ten und sich dar­über beschwer­ten ‚dass ich um 22:30 schla­fen ging und um 5:30 auf­ste­hen muss­te.

Die Stu­fe auf der sozia­len Lei­ter erkennt man dar­an, ob jemand sich aus­su­chen kann, wann er auf­steht. Sag­te ein mit mir bekann­ter Schau­spie­ler und Kämp­fer für das freie Pla­ka­tie­ren. Der übri­gens auch nicht gera­de einer ist, der viel schläft.

Ich klet­te­re in die Bade­wan­ne, hal­te mich an den Flie­sen fest. Danach Kaf­fee. Und Bro­te strei­chen. Saft und­Mi­ne­ral­was­ser in eine klei­ne Fla­sche. Das gehört dazu. Nicht, dass ich zu den Men­schen gehö­re, die ein Lunch­pa­ket brau­chen, mein Bro­testrei­chen ist rei­ne Sen­ti­men­ta­li­tät. Ich bin mir heu­te selbst Groß­mutter.

Stop­fe alles in den Ruck­sack, prü­fe zum hun­derts­ten Mal, ob ich den ÖBB-Zet­tel (Spar­schie­ne-Ticket) auch wirk­lich dabei habe.

5:30: Ver­las­sen der Woh­nung. Die Vögel krei­schen. Fra­ge mich, ob der spä­te Vogel Ohro­pax­be­sit­zer ist.

Der 31er ist fast leer, schlän­gelt sich durch den 20. Bezirk. In der U‑Bahn packe ich mein Notiz­heft aus. Die Men­schen­stei­gen mit zer­knit­ter­ten Gesich­tern ein, Trä­nen­sä­cke, schwe­re Augen­li­der. Die blei­chen Gesich­ter mit Make-up zuge­kleis­tert. Wir sind alle kei­ne Vögel, trotz­dem fan­gen wir den Wurm – die U‑Bahn, die Stra­ßen­bahn, die Bahn.Wien und sein Gedärm. Mein Wurm kriecht gera­de aus dem Wie­ner Becken her­aus, mir ist übel vom gat­schi­gen Toast, den ich im War­te­hüt­tel ver­speist habe. Aus Lan­ge­wei­le. Wenn man Besit­zer eines Spar­schie­ne-Tickets ist, ist man viel zu früh am Bahn­hof.

Heu­te habe ich einen Ter­min im Rat­haus. Um acht Uhr woll­te sich Herr P. mit mir tref­fen, mein Zug kommt erst um9:00 an.

Jaja, die vom Bau­amt sind frü­her dran, sagt S. vom Kul­tur­amt. Ich fra­ge mich, wie das kommt. Ob das was mit den­Bau­stel­len zu tun hat. Ob eine Bau­amts­per­son selbst vom Bau kommt. Oder sich nach den Arbeits­zei­ten dort  . Was weiß ich.

Ich den­ke an mei­nen Vater. Er gehört zu den Men­schen, die täg­lich um 4:30 auf­ste­hen müs­sen – spä­tes­tens. Er ist Gerüs­ter. Ob wir uns in die­sen 3 Mona­ten sehen wür­den, frag­te er mich. Wohl kaum. An den Diens­ta­gen, die ich inWi­en arbei­te, ver­las­se ich das Büro zu einer Zeit, da er sich bereits zur Ruhe begibt. Da geht sich maxi­mal eine Stun­de aus, sagt er. Bis ich bei ihm sei – 20:30 – sei es für ihn schon fast zu spät. Zwei Jah­re hat er noch bis zur Pension.Mehrere Band­schei­ben­vor­fäl­le und jeden Tag die schwe­ren Stan­gen und Lat­ten. Trotz­dem gilt er nicht als „Hackler“,diese Rege­lung trifft auf Leu­te wie ihn nicht zu. Er hat den Feh­ler began­gen, zu matu­rie­ren (in Juden­burg, jener Schu­le, die ich kon­tak­tiert habe). Da feh­len ihm jetzt die Jah­re.

Von Vögeln sprich auch er, wenn er erklärt, war­um er trotz Matu­ra die­sen Beruf gewählt hat. Von den „gma­scherl­ten Vögeln“, die ihm gestoh­len blei­ben könn­ten. Ein Bau­ar­bei­ter ist wenigs­tens ehr­lich zu dir, der sagt dir ins Gesicht, wenn du ein Arsch­loch bist. An sol­che Din­ge den­ke ich, wenn ich um 6:00 in der U‑Bahn sit­ze.

Dein Vater ist was? Gerüs­ter. Was ist das? Gerüst­BAU­er, sage ich, benüt­ze die kor­rek­te Berufs­be­zeich­nung. Noch immer sitzt man mir mit weit auf­ge­ris­se­nen Augen gegen­über. Na, einer, der die Gerüs­te auf­stellt, erklä­re ich, du  , wo dann die Maler drauf­stei­gen, wenn sie eine Fas­sa­de … Ah! – Kur­zes Schwei­gen und dann: Nein, nicht­wirk­lich!

Davor hat man mich gefragt, was ich stu­diert hät­te. Nichts, habe ich geant­wor­tet. Ich bin gelern­te­Kin­der­gar­ten­päd­ago­gin. Heu­te arbei­te ich in einer Ordi­na­ti­on.

Das darfst du dann aber nicht sagen, wenn man dich bei einem Inter­view fragt. Dort musst du sagen: Ich bin­Schrift­stel­le­rin.

Man traut einer Kin­der­gärt­ne­rin nicht zu, schrei­ben zu kön­nen. Schon gar nicht traut man es der Toch­ter eines­Ge­rüst­bau­ers zu. Die ande­ren in mei­nem schrei­ben­den Umfeld haben stu­diert. Haben Eltern, die eben­falls stu­diert haben. Oder Eltern, die ihr gan­zes Geld zusam­men­ge­spart haben, damit ihre Kin­der ein­mal stu­die­ren. Die­se Eltern­sit­zen im Café und blä­hen stolz ihr Gefie­der, wenn ihre Kin­der vor­ne sit­zen und lesen. Neid und Selbst­mit­leid krie­chen hoch, bil­den einen Kloß. Mit mei­nem Kropf sehe ich aus wie eine Tau­be. Eine Tau­be unter Trut­häh­nen.

Wenn ich lese, schal­tet kein Vater die Kame­ra ein. Lesun­gen begin­nen bekannt­lich nicht vor 19:30, da liegt meinErzeu­ger schon müde am Sofa. Manch­mal kommt einer aus dem Publi­kum und spricht mich an. Gra­tu­liert mir zu mei­nem Text und manch­mal wer­de ich nach den per­sön­li­chen Hin­ter­grün­den gefragt, die ich nicht beant­wor­te.

Wenn dich ein Wild­frem­der für dei­nen Text lobt, bedeu­tet das mehr als wenn es die Eltern tun. Sagt man. Eltern müs­sen ihre Kin­der loben.

Mei­ne Eltern kön­nen mit mei­nem Schrei­ben nichts anfan­gen. Mein Vater schüt­telt den Kopf, wenn ich von Juden­burg erzäh­le. Dass er sich das nicht antä­te, sagt er. Was das denn brin­ge? Und über­haupt, Juden­burg.

Als ich ihm sage, dass ich mich der­zeit mit Spra­che (Dia­lekt, Fär­bun­gen) und Land­schaft beschäf­ti­ge, mit dem Begriff„Heimat“, schweigt er. Dann erzählt er von sei­nem Video­re­kor­der.

Für mei­ne Mut­ter ist ein Autor ein Name, der auf einem Buch­de­ckel steht. Als ich ihr zum Geburts­tag den Kri­mi eines­Ver­lags­kol­le­gen samt Signa­tur schenk­te, strich sie beglückt über den mit Füll­fe­der geschrie­be­nen Namen. Wow – von­ei­nem ech­ten Autor! Die Füll­fe­der und die Wid­mung eines Men­schen, den sie nicht kennt, machen das Buch beson­ders wert­voll.

Ich fra­ge mich, ob ich mein Buch für eine frem­de Mut­ter signie­ren soll­te. Dann wird auch sie über mei­nen Namens­trei­chen und sagen: Eine ech­te Autorin.

Mei­ne Mut­ter hät­te sich gewünscht, dass ich Jour­na­lis­tin wer­de. Oder Dol­met­sche­rin. Auf jeden Fall Kar­rie­re­frau. Du hät­test das Zeug dazu gehabt, sag­te neu­lich auch mei­ne Groß­mutter.

Ich den­ke an mei­ne Träu­me – mit fünf­zehn, sech­zehn, sieb­zehn. Ich habe kei­nen Wurm gefan­gen. Der Wurm warn ichts für mich. Dort waren mir zu vie­le Vögel dran. Die hacken sich gegen­sei­tig die Federn aus dem Leib, und pecken­ein­an­der die Augen aus. Ich bin kei­ne Pecke­rin. Bin eine, die lie­ber zusieht.

Ich sehe die Men­schen in den Ubahn­schlau­fen hän­gen. Die Hand im Oran­ge ver­keilt, der Kör­per noch inSchlaf­po­si­ti­on. Stel­le mir vor, wohin sie fah­ren. Vie­le stei­gen bei Michel­beu­ern aus. All­ge­mei­nes Kran­ken­haus, sie sind­Pfle­ger und Pfle­ge­rin­nen. Auch so ein Beruf, über den man sagen wür­de: Das sagst du lie­ber nicht bei einem Inter­view.

Ich fra­ge mich, was die moder­ne Welt ohne Bau­ar­bei­ter, Kran­ken­pfle­ger, Kin­der­gärt­ne­rin­nen und Ver­käu­fe­rin­nen täte.Und regen Sie sich jetzt bit­te nicht über das feh­len­de Binnen‑I auf! Hier geht es nicht um das Binnen‑I. Hier geht es umdie, die um 5:30 in der U6 ste­hen. Jene, die – wenn man sich denn danach frag­te – bestimmt nicht sagen wür­den: Ich bin Früh­auf­ste­her. (Die, die so was sagen sind immer Men­schen, die nicht auf­ste­hen müs­sen. Sind Men­schen, die mit der Kaf­fee­tas­se in den Gar­ten oder auf den Bal­kon tre­ten und sagen: Herr­lich, so ein Mor­gen. Der Mor­gen in der U6entbehrt jeder Herr­lich­keit.)

Ja, ich bin Toch­ter eines Gerüst­bau­ers. Enke­lin eines Hau­ers, der kein hal­bes Jahr nach mei­ner Geburt im Fohns­dor­fer Berg­werk ver­un­glück­te. Toch­ter einer Frau, die auch „das Zeug gehabt hät­te“, wenn sie nicht mit 17 Mut­ter gewor­den­wä­re. (Sie hat trotz­dem mit Vor­zug matu­riert.) Als Kind hin und her geris­sen zwi­schen zwei Bun­des­län­dern und zweiF­rau­en. 15 Jah­re in einem Beruf, der von allen Sei­ten mil­de belä­chelt wird. Dass die­se „Tan­ten“ gegen eine Welt­kämp­fen, von denen die „gma­scherl­ten Vögel“ kei­nen blas­sen Schim­mer haben, weiß kaum einer. Das ist eine Welt, wo das The­ma Miss­brauch kei­ne Dun­kel­zif­fer ist. Wo Inte­gra­ti­on etwas ist, das oft gar nicht statt­fin­den kann, weil die­Vor­aus­set­zun­gen feh­len. Das ist eine Welt, die nicht hei­le, hei­le Segen ist. Eine Welt der Kuckucks­kin­der, für die kein­Platz ist. Weil die Eltern 10 Stun­den an einer Bil­la-Kas­sa ste­hen. Um 5:30 in die U‑Bahn stei­gen, die Kin­der imSchlepp­tau, abge­ben, danach wei­ter, durch halb Wien, für einen Bet­tel­lohn ein rotes oder gel­bes T‑Shirt anziehen,Waren ein­schlich­ten, Waren über den Licht­de­tek­tor zie­hen. Um 17:00 het­zen sie wie­der zurück. Und wehe, sie kom­men nach 17:30 in den Kin­der­gar­ten. Man­che hal­ten das durch, ande­re klin­ken sich aus. Burn­out, Arbeits­lo­sig­keit. Sei nicht so nega­tiv, sagen man­che. Sagen die, die stu­diert haben. Na und?, sagen sie, ich hab auch eine 60-Stunden-Woche.Sagen die, die 4000 € ver­die­nen und im Büro den Stan­dard lesen. Die sich selbst aus­su­chen kön­nen, ob sie 60 Stun­den­ar­bei­ten oder 30. Sol­che Gedan­ken kom­men mir in der U‑Bahn. Im Zug schrei­be ich sie nie­der. Unzen­siert.

Viel­leicht liegt es dar­an, dass ich selbst zwi­schen den Wel­ten auf­ge­wach­sen bin. Zwi­schen bür­ger­li­cher Schu­le imCot­ta­ge-Vier­tel und Haus­feld­sied­lung. Zwi­schen den „gma­scherl­ten Vögeln“ und den täto­wier­ten Freun­den des Vaters­mit dem Meidlinger‑l. Zwi­schen Thea­ter-der-Jugend und ver­rauch­tem Beisl. Zwi­schen Wien und Wasen­dorf, zwi­schen­Wi­en und Graz. Ich fah­re ger­ne Zug. Ich habe nicht Ger­ma­nis­tik stu­diert. Ich lese viel. Lesen ist Flucht und­Kon­fron­ta­ti­on zugleich. Schrei­ben eben­so.

In Bruck waren die frü­hen Vögel schon flei­ßig. Gel­be Köp­fe haben sie. Krie­chen mit blau­en Hosen zwi­schen Lat­ten her­um. Mit dei­nem Kof­fer musst du aus­wei­chen. Ich sehe aus dem Fens­ter und bin froh, an mei­nem Lap­top sit­zen zudür­fen. Mein Band­schei­ben­vor­fall kün­digt sich im Nacken­be­reich an – ich habe ihn mir selbst ange­tan. Kei­ner zwingt mich, stun­den­lang vor dem Lap­top zu sit­zen. Oder um 6:30 in den Zug zu stei­gen und nach Juden­burg zu fah­ren. Abe­rich brau­che die­se Kon­fron­ta­ti­on. Viel­leicht liegt es dar­an, dass ich kei­nen Fern­se­her habe. Viel­leicht aber habe ich auch ein­fach nur einen Vogel.