Heimat ist eine kitschige Postkarte
Ich habe immer jene Leute beneidet, die sagen, dass sie übers Wochenende „heim fahren“.
Was ist dieses „Heim“?
Als Kind, da war Heimat noch dort, wo ich nicht zuhause war. Sowas musst du dir abgewöhnen, sonst gehst du unter. Ich habe vierzehn Jahre gebraucht, um Wien mögen zu lernen. Heimweh ist etwas, das dich dein ganzes Leben begleiten kann.
Seit ich von „zu Hause“ (Wohnung der Mutter) ausgezogen bin, bin ich bei mir zu Hause. Dort wo ich mich am Abend schlafen lege. Dort, wo meine „eigenen“ (gemieteten) 4 Wände sind, wo ich nicht mit den Erwartungshaltungen anderer Leute konfrontiert bin. Egal, ob das nun in Wien , hier oder woanders ist. Zu Hause ist dort, wo ich in meinen Jogginganzug schlüpfe und mit einem Buch unter die Decke schlüpfe. Sogar, als ich in England wohnte, sagte ich: „Ich fahre nach Wien.“ Mit dem Begriff „Heimfahren“ verbinde ich nichts, bei Heimat denke ich an schneebedeckte Berge, zwischen denen ich nie gelebt habe. Heimat, das ist die vage Vorstellung einer kitschigen Österreich-Postkarte.
Ich stehe an der Billa Kassa. Burggasse Judenburg, und ich fühle mich wie früher, als kleines Kind, als man mir noch übers Haar strich – nur weil die Kassiererin mir einen Guten Tag wünscht. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ich – als ich Sprache noch wie ein Schwamm aufsaugte aber selbst noch kein klares Wort herausbekam – hier lebte. Im Schuljahr 1976/77 gab es keine Muttersprache und auch keine Muttermilch. Da gab es die Großmuttersprache und den Großmutterduft.
Heimat, das sind kleine Lautverschiebungen. Ist vielleicht eine Landschaft. Ein Geruch. Heimat, das ist nie bloß ein bestimmter Ort. Heimat ist Erinnerung an etwas, das es so nie gab.
Ein kleines Haus in Wasendorf, hinter dem Gasthaus Peer. Dorthin bin ich als Kind gefahren worden, wenn man mich „heim“ brachte. Das Haus ist grauer, der Garten kleiner, der Schmetterlingsfriedhof unter den Stachelbeersträuchern existiert nicht mehr. Auf der Weide, die mir damals riesig erschien, und die doch nur ein kleiner Flecken Gras ist, stehen keine Kühe. Pferde habe ich dort gesehen, mit 24, als ich mir eingebildet habe, 18 Jahre nach der Übersiedelung meiner Großmutter nach Graz wieder hierher fahren zu müssen.
Das, was ich heute erkenne, ist das, was ich mit 24 gesehen habe. Das hat nichts mit Heimat zu tun. Die Heimat war warm und saftig und grün. Da waren die Kühe und die Apfelbäume und die traurig dreinblickende Katze im Kücheneck. Das waren die unzähligen Bilderbücher und der Kohlenkeller und der Stier, der unseren Zaum niedergetrampelt hatte.
In meiner Erinnerung war Fohnsdorf weit, sehr weit weg. Ein unendlich langer Fußmarsch über die Felder. Der Name Dietersdorf sagt mir gar nichts. Was soll das sein? Ein neuer Ort?
Der Bus fährt an hässlichen Neubauten vorbei.
Und dann entdecke ich auf einem alte Kinderfoto im Hintergrund : Die hat es damals schon gegeben. Da waren nicht nur Weide und Kühe und saftiges Gras.
Ich stehe beim Billa. Die Kassiererin bedankt sich für meinen Einkauf und wünscht mir ein schönes Wochenende. Die Frauen hier singen. Wenn dir eine Judenburgerin sagt, dass du ein Idiot bist, muss sich das noch immer freundlicher anfühlen, als wenn dir eine Wienerin sagt, du seist eh ganz okay.
Ich gehe in den Wald, hinten bei Oberweg hinauf. Bleibe im Gatsch stecken und stapfe durch den Schnee. Rutsche auf einer vereisten Wurzel aus und falle auf den Hintern. Bleibe am gefrorenen Waldboden sitzen und schaue hinunter, an den Nadelbäumen vorbei auf das Dorf. Und kann mir nicht mehr vorstellen, morgen in den Zug steigen zu müssen. Und nach dem Zug in die Ubahn. Durch die überfüllte Karlsplatzpassage zu hetzen, Judenburg im Kopf, den Wiener Asphalt unter den Füßen. Ich werde ein paar Nadeln fallen lassen. Ein bisschen von der Erde von hier in den Rillen meiner Wanderschuhe nach dort tragen. Aber nein, morgen werde ich ja andere Schuhe anhaben. In Wien brauchst du keine Wanderschuhe. Schon gar nicht am Karlsplatz