Titel: An einem ande­ren Ort
Autorin: Zden­ka Becker
mit Foto­gra­fien von Niko­laus Korab

Ein wun­der­schö­ner Band mit gesam­mel­ten Kolum­nen und Rei­se­jour­na­len von Zden­ka Becker ist im Früh­jahr in der Lite­ra­ture­di­ti­on NÖ erschie­nen. In ihren Tex­ten berich­tet die in der dama­li­gen Tsche­cho­slo­wa­kei gebo­re­ne Autorin, die als jun­ge Erwach­se­ne nach Öster­reich kam, von ihren Begeg­nun­gen unter­wegs – wie etwa vom einer Boots­fahrt auf der Donau, die sie als jun­ge Stu­den­tin, noch in der Tsche­cho­slo­wa­kei wohn­haft,  gemein­sam mit Bekann­ten unter­nom­men hat. Auf die­ser Boots­fahrt begeg­ne­ten sie Rei­sen­den aus Öster­reich. An wel­chem Ufer gemein­sam fei­ern, stell­te sich damals die Fra­ge. Die aus Öster­reich hat­ten nur ein Visum für Ungarn, Zden­ka und ihre Bekann­ten wie­der­um durf­ten das eige­ne Land nicht ein­fach so ver­las­sen.

Zden­ka Becker erin­nert sich und sie zieht Ver­glei­che. Was ist die­ses Euro­pa? Was macht uns aus? Was eint und was trennt uns? Was hat sich ver­än­dert seit dem Fall der Mau­er – und wo müss­te man noch mehr Mau­ern nie­der­rei­ßen?
Becker berich­tet nicht nur von ihren Rei­sen als Schrift­stel­le­rin, die sie um die Welt geführt haben, son­dern auch von ihrem eige­nen Fremd­sein in Öster­reich, das nie wirk­lich auf­ge­hört hat. Den sla­wi­schen Akzent wur­de sie nie ganz los, geht es um ihre Lite­ra­tur wie­der­um, bewun­dert man sie für ihr schö­nes Deutsch.

Hät­te ich an einem ande­ren Ort die sein kön­nen, die ich nicht war, oder blie­be ich die, die ich immer schon bin? Je älter ich wer­de, umso mehr mache ich mir Gedan­ken dar­über, was wäre, wenn ich in der dama­li­gen Tsche­cho­slo­wa­kei geblie­ben wäre. Las­sen sich zwei Lebens­ent­wür­fe mit­ein­an­der ver­glei­chen?

Die­se Fra­ge stellt sich Zden­ka Becker gleich in ihrem ers­ten Text.

Gera­de jetzt, da die rechts­extre­men Par­tei­en in Euro­pa wie­der mas­siv an Zulauf gewin­nen, gera­de jetzt, da über Mau­ern und bewaff­ne­te Grenz­kon­trol­len wie­der laut nach­ge­dacht wird, sind Geschich­ten, wie sie Zden­ka Becker schreibt, umso wich­ti­ger. 
In den ein­zel­nen Kapi­teln begeg­nen wir Men­schen, die dem alten Ost­eu­ro­pa nach­trau­ern, da der Fall der Mau­er nicht die nur die erhoff­te Frei­heit gebracht hat, son­dern vor allem den Aus­ver­kauf der staat­li­chen Fabri­ken, teu­re Immo­bi­li­en­prei­se und Arbeits­lo­sig­keit. Dann wie­der begeg­nen wir einer rebel­li­schen Fami­lie mit­ten im klein­bür­ger­li­chen Iwo­wa, wo sich schmu­cke Häus­chen in Pas­tell­faben anein­an­der­rei­hen. „Kill Bush“ prangt der Schrift­zug auf der Schild­kap­pe von Zden­ka Beckers Gast­ge­be­rin, die ihren Gar­ten bewusst ver­wil­dern lässt und die Kat­zen, da sie per Gesetz nicht nach drau­ßen dür­fen, mit lan­gen Lei­nen  an Bäu­me bin­det. 

Wohin gehen wir – in Euro­pa, in Ame­ri­ka, in der west­li­chen Welt, in Nah­ost, in all den ande­ren Län­dern, von denen man eini­ge bes­ser nicht mehr bereist? Ich will nicht sagen, dass frü­her alles bes­ser war, aber ins­ge­samt darf man schon einen besorg­ten Blick auf die­se Welt wer­fen. 
Es hat jedoch auch kei­nen Sinn, sich in eine Hip­pie-Aus­stei­ger­kom­mu­ne zu ret­ten – wie wir in „Kind der Son­ne“ erfah­ren, wo Zden­ka Becker von ihrer Begeg­nung mit einem jun­gen Mann namens Inti schreibt, der in einer sol­chen auf­ge­wach­sen ist.

Viel­leicht hat es auch Vor­tei­le, wenn man sei­ne Hei­mat wech­selt. Offen­her­zig­keit und Neu­gier­de auf ande­re Orte und deren Men­schen sind das Grund­ge­päck, das es braucht, wenn man sich in eine neue Kul­tur ein­lebt. Ein biss­chen von die­sem Gepäck wün­sche ich allen Men­schen. Man muss nicht selbst alle Orte berei­sen, man kann auch Bücher lesen.
An einem ande­ren Ort öff­net uns Türen zu Schick­sa­len von Men­schen aus nahen und fer­nen Län­dern. Beim Lesen habe ich mich stel­len­wei­se gefühlt, als säße ich selbst um Flie­ger. Ich hielt die Hand einer koso­va­ri­schen Frau, trau­er­te mit einem US-Ame­ri­ka­ner um des­sen Toch­ter, die an jenem schreck­li­chen 11. Sep­tem­ber starb, ich saß in Kaf­fee­häu­sern und unter­hielt mich mit alten Bekann­ten und reis­te zu Schrif­st­stel­ler­kon­gres­sen und Lesun­gen bis ins fer­ne Indi­en. 

Zden­ka Becker hat für ihre Rei­se­jour­na­le eine Spra­che gewählt, die uns teil­ha­ben lässt, als wären wir selbst es, denen die­se wun­der­ba­ren Begeg­nun­gen wider­fah­ren. Meist sind wir mit­ten­drin – manch­mal aber beob­ach­ten wir Men­schen aus einer gewis­sen Distanz her­aus,  es Wie etwa in einer Bar in Rom …

Beson­ders anspre­chend ist auch die Gestal­tung des Buches, was nicht nur am wun­der­schö­nen Lay­out liegt, son­dern auch an den Fotos von Niko­laus Korab, wel­che die ein­zel­nen Kapi­teln beglei­ten. Sie alle füh­ren uns an wie­der ande­re Orte als jene, von denen Zden­ka Becker berich­tet.

Titel: An einem ande­ren Ort
Autorin: Zden­ka Becker
mit Foto­gra­fien von Niko­laus Korab
Ver­lag: Lite­ra­ture­di­ti­on Nie­der­ös­ter­reich
Erschei­nungs­jahr: 2024
Sei­ten: 220
ISBN 978-­3­-902717-­75­-7