erschienen in der Literaturzeitschrift etcetera # 42, 2010
Wie leicht haben es doch diejenigen, die nicht auf der Suche nach der großen Liebe sind, die die Suche entweder aufgegeben haben oder sich mit dem begnügen, was sie einst gefunden haben. Stierschneiders, zum Beispiel, haben die große Liebe längst hinter sich. Wohlig lehnt man sich zurück und genießt, dass man einander hat. Und auch sonst haben sie alles. Der pensionierte Professor hat sein Arbeitszimmer mit dem ledernen Sessel und seine Gattin ihr duftendes Reich zwischen Bratpfannen und Suppentöpfen.
Kochen ist Traudes Leidenschaft, ist das Kochen doch die reinste Form der Liebe. Ohne Essen kann der Mensch nicht leben, und was gibt es Schöneres, als die, die man liebt, am Leben zu erhalten. So gebiert sie immer wieder aufs Neue, nicht nur den Sohn, sondern auch den Gatten. Traude Stierschneider kann mit der neuartigen Knausrigkeit nichts anfangen. Alle sind so geizig heutzutage, niemand gönnt dem anderen mehr etwas. Eine Frau, die ihrem Mann ein Gemüseschnitzel hinstellt, wo soll das denn bitteschön hinführen? Ohne eine Unterlage wird der Mensch nicht satt, da sucht er sich sein Vergnügen woanders, geht ins Wirtshaus und kommt am Ende gar nicht mehr nach Haus. Da hat sie es geschickter angestellt, ihr Norbert ist immer gern nach Haus gekommen. Nach so viel Vergeistigung auf der Universität war er ganz ausgehungert, da hat sie das Essen schon parat gehabt. Nur neuerdings, seitdem er das Zepter an die Jugend weitergegeben hat, wird er ein wenig unberechenbar, da steht sie manchmal schon eine Viertelstunde mit dem fertigen Essen da, und er ist noch immer nicht daheim. Aber das wird sie ihm auch noch abgewöhnen, da muss wieder eine Ordnung einziehen, so ein ungeregelter Tagesablauf ist nämlich nicht gesund, schon gar nicht für einen Pensionisten. Jetzt, da Norberts Zeit nicht mehr in Vorlesungen und Seminare eingeteilt ist, muss Traude das Einteilen für ihn übernehmen, also kocht sie seit kurzem zu Mittag. Punkt Zwölf steht das dampfende Essen auf dem Tisch, und wehe Norbert, wenn er die Knödel kalt werden lässt.
Heute ist ein ganz besonderer Freudentag, denn heute kommt der Bub zum Essen. Traude Stierschneider steht in der Küche, die Schürze umgebunden, und sticht in den Braten. Fein wird der wieder, der Duft hängt schon im Stiegenhaus und lockt auch Norbert Stierschneider an, der vom Bummeln kommt.
„Mm, Gasthaus Schmatz!“, sagt er und schlüpft in die Lederpantoffeln. „Schweinsbraten, ich hab´s gleich im Erdgeschoss gerochen. Ist der Bub schon da?“
Noch bevor Traude den Mund aufbringt, läutet es auch schon an der Gegensprechanlage. Da ist er ja, der Bub, Zeit wird´s, der Braten ist gar und die Knödel liegen auch schon auf der Servierplatte. Schnell schlüpft Traude aus der Schürze und stellt das dampfende Essen auf den Tisch. Mit glänzenden Augen beugt man sich über die Teller, und schon wird gekaut und geschmatzt, Fett spritzt aufs weiße Tischtuch, aber das macht nichts, Traude, die nun ganz Mutter ist, hat dieses neue Waschmittel, das Geheimnis jeder perfekten Hausfrau, so ein Mittel würde sogar das Turiner Grabtuch wieder zum Strahlen bringen. Stolz nimmt sie einen zweiten Knödel. „Du auch, Jakob, iss, du schaust eh so mager aus. Und mitnehmen kannst dann auch noch was, für morgen und übermorgen.“
Nach dem Essen stapelt die Mutter die Teller aufs Tablett, jetzt darf geredet werden, über die Uni und das Forschungsprojekt. Der Herr des Hauses holt die Pfeife aus der Lade, stopft Tabak nach, und Jakob muss berichten, vom Quantenkanal im Untergrund, von den Fortschritten und Rückschlägen sowie von Professor Blasbichler, den er nicht leiden kann, aber das sagt er nicht, denn der Professor ist ein ehemaliger Kollege des Vaters, und als Sohn muss man stolz sein, für die Kollegen seines Vaters arbeiten zu dürfen.
„Du trinkst doch auch noch einen Kaffee?“, fragt die Mutter, die Schürze wieder umgebunden, die Hände rot und aufgeweicht vom Abwaschwasser. Während sie den Kaffee und die Tassen holt, dreht der Vater das Radio an und klopft die Pfeife aus.
„Die Oma bekommt jetzt Essen auf Rädern“, informiert die Mutter den Sohn im Flüsterton.
„Pscht!“, macht der Vater und hebt den Zeigefinger an die Lippen.
Im Radio spricht man von Koalitionsbruch und Neuwahlen, da wird die Mutter gleich ganz rot im Gesicht. Mit geschwollenen Backen sitzt sie da und hält die Luft an, aber schon zischt es aus ihr heraus: „Eine Frechheit ist das! Was das wieder kostet!“ Wie auf hoher See wogen ihre Brüste unter der Schürze, dass Jakob ganz schwindlig wird vom Hinschauen. „Wie wenn die den Staat nicht schon genug geschädigt hätten, die sollen lieber arbeiten“, murmelt sie, die bösen Blicke des Vaters ignorierend, aber da kommt schon die Schweinegrippe ins Spiel, löst das mangelnde Engagement der Politiker ab. Schweinegrippe! Die hat sie ganz vergessen, das müssen die Folgen vom BSE sein, Inkubationszeit 8–12 Jahre hat es damals geheißen, jetzt sind wieviel? Traude sieht die eigene löchrige Gehirnmasse vor sich. Ihre Vergesslichkeit die letzten Monate. Wie konnte sie nur Schweinsbraten machen!
Als Tiefdruckgebiet kommt das Wetter auf den dampfenden Kaffee herab und weicht dem Verkehrsfunk. Heftig schlägt die Mutter mit dem Löffel gegen den Tassenrand.
„Glaubst, ist das Tamiflu schon abgelaufen?“
Wie lang ist das mit der Vogelgrippe jetzt her und dass sie dieses Medikament gekauft hat?
„Dein Tamiflu hilft da gar nix“, sagt der Vater. Er lacht, lacht sein böses Lachen, den Teufel hat sie geheiratet!
Jakob sitzt daneben und denkt an ganz andere Dinge, sieht seine süße Marie vor sich, Marie, die er vor einer Woche kennen gelernt hat und die er heute treffen und zum Essen ausführen wird, Scampi und Tintenfische, er kennt da eine Trattoria, doch da kommt schon der Topfenstrudel ins Wohnzimmer.
„Ich kann echt nicht mehr“, sagt Jakob, „außerdem muss ich noch ins Labor“, er springt auf, der Stuhl gerät ins Wanken gerät, Gleichtakt mit dem Mutterbusen.
Gekränkt wirft die Mutter ihren Blick über Tisch und Topfenstrudel.
„Aber wenigstens ein Stückerl kannst doch noch essen!“
Also setzt sich Jakob wieder, sticht mit der Gabel in das Topfenstrudelstück, steckt es in den Mund. Speichelt ein, Würgreflex, dagegen anschlucken. Wie soll er da noch Scampi?
Ich könnte ihnen jetzt erzählen, dass ich Sonja verlassen habe, denkt er, während die Mutter ihrerseits ein Stück Strudel in den Mund schiebt, Blätterteig hängt ihr im Mundwinkel. Der Vater schenkt Kaffee nach, blickt den Sohn zufrieden an, den Sohn, der wieder ins Labor will, der bald seinen Doktor hat und die Sonja heiraten wird und trotzdem noch an der Familie festhält.
Jakob würgt und schluckt tapfer, bis das letzte Brösel vom Teller in den Mund gewandert ist.
„Ich muss jetzt aber wirklich!“, sagt er und schon schaut die Mutter auf, „So wart doch noch ein bisserl“, fährt sie in die Höhe und aus der Schürze heraus, mit der Hand in die Haushaltskasse und mit dem Hunderter in des Sohnes Gesäßtasche. Dann packt sie ein Stück Topfenstrudel in das eine Tupperschüsserl und ein Stück Schweinsbraten samt Knödel und Saft in das andere, größere: „Das kannst heut am Abend essen, wost doch immer so lang im Labor sitzt.“
Jakob nimmt die Schüsserl entgegen, in drei Stunden wird er Marie vor dem Haas Haus treffen. Wohin jetzt mit den Plastikbehältern? Die Mutter ist heikel, was ihre Tupperware betrifft, in den nächsten Mistkübel geht also nicht. Und ob sich der Professor so freut, wenn er den Schweinsbraten zwischen dem Kristall und den Spiegeln liegen lässt? Also den Schweinsbraten und Strudel in den nächsten Mülleimer, den bei der Straßenbahn. Vielleicht freut sich ja jemand drüber, Mistkübelstierler, denkt sich Jakob. Die Schüsserl im Labor unter den Wasserstrahl halten. Drei Stunden Verdauungszeit hat er noch.
(Der Text ist ein Auszug aus meinem Manuskript mit dem Arbeitstitel “Mittelstadtrauschen”.)