Anleitung: Schreibe eine Geschichte mit folgenden Sendungstiteln: “Hexe Reloaded”, “Hoppala, Traktorstrahlen”, Stadtleben – Stadtlesen”, “Mondsüchtig”, “Traumstädte — Stadtträume” – “Die blaue Sendung: Goldstücke”, sowie: “Mörder, Biografen und Radieschen”.
Ist das dein Ernst?
Und ob!
Beginnen wir also mit dem Biograf.
Er wird die Hauptperson dieser Geschichte – Juhu, Protagonist gefunden!
Ein Biograf? Bist du dir sicher, dass es den Beruf heute noch gibt?
Und ob. In letzter Zeit ist es zwar nicht mehr so leicht, die Hochzeit der Memoiren ist vorüber, allein schon wegen der Social Media. Keiner engagiert jemanden, um um Nachhinein die eigene Geschichte zu verfälschen, heute geschieht das hier und jetzt.
Der Biograf von heute, er arbeitet im Hintergrund, als Geisterschreiber (#ghostwriter), Twitter-Experte, als Tic-Tac-Toeler und Facebook-Stratege (#bimpupyourbiography). Er ist jung, dynamisch und extravertiert und weiß sich, im Ranking nach oben zu schummeln.
Nicht so unser Biograf. Nennen wir ihn Herbert S. Mit seinen 67 Jahren ist auch seine Blütezeit längst vorüber. Im Moment sitzt er auf einer Bank, nahe dem Kinderspielplatz, wie so oft. Hat ihm schon einige Beschimpfungen eingetragen, manche davon waren ziemlich wüst. Was er da wolle. Warum er so glotze. “Alter Spanner, du!“
Herbert zuckt mit den Achseln, die dreckige Phantasie der anderen geht ihn nichts an. Er wird sich doch wohl noch auf die Bank setzen dürfen, um sein Pausenbrot zu essen!
Gerade eben öffnet er seine Ledertasche – Modell 1984, mit der er noch immer jeden Morgen das Haus verlässt – und zieht eine Plastikbox heraus. Leberstreichwurstbrot, heute hat ihm Anita vier Radieschen dazugelegt.
Herbert blinzelt gegen die Sonne, es ist warm, ein Frühlingstag Mitte April. Der Spielplatz im Park gegenüber dem kleinen Büros, das Herbert vor drei Jahrzehnten in Eigentum erworben hat, ist sein Erholungsraum, mitten in einer Stadt, die geprägt ist vom aggressiven Fortschrittsglauben der Jungen. Schon lange keine Traumstadt mehr, nicht für Herbert, trotz der Umfragen und Wohlfühlrankings, die anderes besagen. Umweltfreundliche Stadtraumplanung, so das Schlagwort der Schlipsträger, überall stehen neuerdings die Kräne und Bagger. Herberts Stadt hat sich in ihren Jugendtagen ein zu enges Kleid angezogen, nun platzt sie aus allen Nähten, unkontrolliert quillt das Menschenfleisch aus den Rissen. Weil nach den Seiten hin kein Raum bleibt. Man rodet Grünflächen, presst Wohnanlagen hinein, mit sieben Stiegen und sechs Stockwerken, mit Gärten in viel zu kleinen Innenhöfen, Grünterrassen auf Dächern, dazwischen Sonnenkollektoren. Effizient und nachhaltig, mit Fernwärmeanschluss und einem Heizwärmebedarf, von dm Herbert nur träumen kann.
Vor zwei Monaten hat Herberts Telefon geklingelt. Nicht zu Hause, sondern im Büro. Diplomingenieur, Kommerzialrat, Honorarkonsul Herr von und zu irgendwas. Sprach von modernem Stadtleben, samt Stadtlesen auf südwestlichen Weinhängen. Herbert kennt die Gockel, er hat seine Biografie schon vor vier Jahren verfasst. Will er etwa noch eine?, hat er sich gedacht. Eitel genug wäre er …
Früher hätte er abgesagt. Aber der letzte Auftrag, den er an Land gezogen hat, liegt jetzt mehr als zwei Jahre zurück. Keiner Normalsterblicher verlangt mehr nach Biografien, bleiben nur die größten Narzissten übrig. Die letzte Anfrage kam vom Büro eines korrupten Politikers, die vorletzte von der Tochter eines Judotrainers, der wegen sexueller Nötigung im Gefängnis sitzt und dessen Unschuld nun in Buchform beteuert werden will. Zum Kotzen, dieses Geschäft. Reicht nur noch, dass sich einer der in Den Haag verurteilen Kriegsverbrecher meldet, um sich mit Hilfe von Herberts Text vom Mörderimage zu befreien und sich die weiße Weste umzuhängen. Dagegen ist ein Honorarkonsul von Stadtverschandler fast schon harmlos.
Herbert hätte keine Sekunde lang gezögert. Einmal noch so richtig ran und dann: Ruhestand, auf Wiedersehen, du eitle Welt, ich gehe.
Aber der Honorarkonsul wollte gar keine zweite Biografie. Sein altes Haus in der Stadt will er haben! Das mit den feuchten Wänden, in denn mal, vor einer halben Ewigkeit, eine Schusterwerkstatt war und das ihm, Herbert, seit den frühen Neunzigern als Büro dient. Ein fünfstöckiges Einkaufszentrum will der Herr Honorarkonsul hier bauen lassen! Und Herbert wollte er mit einer halben Million abspeisen.
Hebert beißt in sein Brot, dann lässt er eines der Radieschen krachen. Hunger hat er keinen, aber Anita mag es nicht, wenn er das halbe Brot zurück nach Hause bringt, und wegschmeißen bringt er nicht übers Herz.
Bissen für Bissen kaut er sein Brot, dazwischen steckt er sich die die restliche Radieschen in den Mund. Dann wischt er sich die Hände an der beigelegten Serviette ab und zieht den Brief aus der Tasche. Die blaue Sendung, so nennt er ihn. Herbert muss lachen. Das Kuvert herbsthimmelfarben, die Marken – insgesamt 5 Stück, was für eine Verschwendung! – sind wahre Goldstücke für seine Sammlung.
Dip Ing. Kommerzialrat, Honorarkonsul schreibt aus Amerika, bessert sein Angebot nach. 1,2 Millionen will er jetzt zahlen. Sollte Herbert dieses überaus großzügige Angebot nicht annehmen, müsse man leider einen Rechtsanwalt einschalten, so die Drohung.
Herbert stellt sich den Mann vor, wahrscheinlich hat er seine Jeans und den Trachtenjanker gegen luftige Leinenhosen und einen blauen Sommerpullover getauscht. Eine Yacht, irgendwo an der Pazifikküste, eine blond gefärbte Frau, eine Teenagertochter, die unter Deck mault und ein Schnofelt zieht, während seine österreichische Sekretärin am Schreibtisch sitzt und weint.
Klischee? Von wegen.
Herbert erinnert sich das letzte Treffen mit dem Honorarkonsul. Der Hochhausbaron, wie man ihn gemeinhin nennt, hatte seine aktuelle Flamme dabei, Herbert sollte über Nacht bleiben, in der gemieteten Jagdhütte, damit man ausgiebig über das geplante Buch plaudern konnte. Judith hatte das Mäuschen vom Baron geheißen. Mitten in der Nacht, als Herbert vor der Hütte gesessen hatte und rauchte, sah er sie plötzlich splitterfasernackt zwischen den Brennnesseln stehen und den Mond anbeten. Hexe reloaded, hat er sich da spontan gedacht. Und dann ist es ihm eingeschossen. Was sich sein Auftraggeber wohl denken wird, wenn er ihn hier erwischt, vor dem Haus, nur mit den Boxershorts bekleidet und keine zehn Meter vom splitterfasernackten Mäuschen entfernt, und das alles nur, weil er nicht hatte schlafen können und sich eine Zigarette angesteckt hat?
Aber da ist der Nougatbaron auch schon hinter ihm aufgetaucht und hat gestöhnt. “Mondsüchtig”, hat er Herbert knapp erklärt, seine Taschenlampe gehoben und der Rothaarigen direkt ins Gesicht geleuchtet.
“Hoppala, Traktorstrahlen!”, hat die Nackte gekichert und sich vom Baron eine kratzige Weste umhängen lassen.
“Aber über das schreiben Sie nix, gell?”, hat es am nächsten Morgen geheißen.
Und deswegen ist er jetzt auf die Idee gekommen, das er diesmal doch etwas schreiben könnte.
Herbert packt die Erinnerungen in die Brotdose und lächelt in sich hinein.
“Sei doch nicht so stur!”, hat Anita gesagt, als er den Stolzen gespielt und jedes Angebot des Hochhausbarons mit noch größerer Vehemenz abgelehnt hat. Anita hat natürlich recht. Sollen die Jungen, die Dynamischen die Stadträume ruhig erobern! Sollen sie alles zubetonieren, versiegeln, mit Einkaufszentren bestücken! Warum sollen er, Herbert S., es sich nicht auch mal gut gehen lassen? In seinem Alter reicht ein altes Haus, in einer ruhigen Gegend, irgendwo am Land. Ein Arzt sollte halt in der Nähe sein, und ein Supermarkt, und vielleicht noch jemand, bei dem Anita anklopfen kann, wenn er einmal nicht mehr ist. Im Alter gibt es ein par Dinge zu bedenken.
Sein letzter Auftrag also. So viel Geld für null Arbeit hat er noch nie bekommen. Und das alles nur, weil sein Haus dort steht, wo einer einen Supermarkt bauen will.
Herbert legt die Serviette zusammen. Dann geht er zurück in sein Büro. Starrt auf die Wand mit den Orndern. Die Unterlagen wird er nicht aufheben müssen, sie sind längst verjährt, er wird sie einfach schreddern und ins Altpapier stopfen.
Er steckt seinen Lieblinsgkugelschreiber in die Tasche und packt den Laptop ein.
Zu Hause wird er den Vertrag unterschreiben. Und danach wird er bei der Versicherung anrufen. Mit siebenundsechzig steht ihm eine Pension zu. Und mit den 700.000, die ihm und Anita nach Kauf eines schönen, kleinen Häuschens bleiben am Land noch bleiben werden, wird es ihnen in den letzten Jahren an nichts mangeln.
Von wegen stur. Herbert schüttelt den Kopf und lächelt. Anita hat gar nichts verstanden. Man muss nur hartnäckig bleiben! Vor allem bei den Honorarkonsulen. Wenn Herbert eines gelernt hat in seiner Tätigkeit als Biograf der Großindustriellen und Korrupten: Wer sich nicht schmieren lässt, bleibt auf der Strecke!
© MK, 2020
Diese Story hat eine herrlich komische Entstehungsgeschichte. Für die 50. Ausgabe der Radiosendung “7 shades of Grauko” haben wir aus unseren 49 bisherigen Sendungstiteln 7 Geschichten gebastelt.
Die Geschichte erschien 2022 in leicht geänderter Form in der Sonderausgabe von “Schreib Was”